Wuppertal

 

Alcina verzaubert

Wuppertaler Opernhaus

 

Premiere am 23.3.2014

 

Das Licht ist noch nicht gelöscht, der Dirigent, aus dem Zuschauerraum gekommen, gibt erst den Einsatz, als im Parkett eine Seitentür knallt, darauf zwei Personen in Seefahrerkleidung durch den Zuschauerraum und das Orchester gehen und die Bühne erklimmen. Während im Zuschauerraum das Licht ausgeht, bemerkt man auf der Bühne ein starkes Licht, das irritiert und blendet. Dann werden die beiden Personen durch einen wilden Bilderschwall außer Gefecht gesetzt und bleiben bewusstlos liegen. Der Zauber Alcinas hat gewirkt.

 

Das starke Licht ins Parkett kommt im 1. Teil, als Alcina noch alle Macht besitzt, immer wieder vor, in wechselnden Farben, lässt Umrisse anders erscheinen, verschwimmen, zeigt, dass vieles nicht so ist, wie es scheint, wir davon aber heftig beeinflusst werden. So ist es der neben der Titelfigur wichtigsten Person Ruggiero ergangen, der von Alcina verzaubert jetzt ihr Liebhaber ist. Er will seine Verlobte Bradamante – eine der beiden Seefahrer – nicht erkennen, selbst als sie sich ihm offenbart, und hält sie danach für einen weiteren Zauber Alcinas, ehe er sich zu ihr bekennen kann. Erst dann sagt er Alcina den Kampf an und rettet damit auch ihre anderen ehemaligen Liebhaber, die sie, ihrer überdrüssig geworden, in Tiere, Pflanzen, Steine verwandelt hat. Neben diesem Handlungsstrang gibt es noch andere: Morgana, Alcinas Schwester, verliebt sich Knall auf Fall in die als Ricciardo in Männerkleidung auftretende Bradamante, gibt ihrem Verlobten Oronte den Laufpass und verträgt sich wieder mit ihm, als Bradamante die Männerkleider abgelegt hat. Alcinas Stiefsohn Oberto sucht beständig seinen Vater, weiß im Gegensatz zu dieser aber nicht, dass er zu den abgelegten Liebhabern und damit Verzauberten gehört. Und schließlich: Alcina scheitert nicht nur durch Gewalt von außen, sondern verliert ihre Zauberkraft vor allem deshalb, weil sie durch die Konkurrenz Bradamantes Liebe nicht mehr als lustvolles Spiel ansieht, sondern echte Gefühle entwickelt.

Diese ineinandergreifenden Handlungsstränge könnten verwirren, werden aber im Gegenteil durch die Regie entwirrt und in jedem Moment nachvollziehbar dargestellt. Johannes Weigand hat in seiner letzten Regiearbeit als Wuppertaler Opernintendant auch geschafft, die Individualität der einzelnen Charaktere durch sorgsame Personenführung genauestens herauszuarbeiten. Ihm gelang das, indem er das Händelsche Arienschema – „Dacapo-Arie“ ABA, der gesamte lange A-Teil wird also noch einmal wiederholt – durch Aktionen aufbrach, die das Geschehen aber nicht nur auflockerten, sondern die Handlung erklärten und weiterführten. Nur in wenigen Fällen verzichtete er darauf und vertraute voll auf die Kraft des Gesanges, wenn etwa die großartig singende Elena Fink als Alcina die Bühne für sich einnahm. Weigand war weit von der Ausstattungsoper, wie sie Händel wohl noch vorgeschwebt hatte, entfernt, und stellte echte und starke Gefühle der Menschen, genauso wie wir sie auch heute noch haben, auf die Bühne.

Kein Wunder, dass der ohnehin schon frenetische Beifall noch einmal kräftig anschwoll, als er und sein Team die Bühne betraten. Und mit diesem Team muss er hervorragend zusammengearbeitet haben. Das bestand aus Moritz Nitsche (Bühne), Judith Fischer (Kostüme) und Fredy Deisenroth (Licht), und Ensemblearbeit war gefragt. So war der große ovale siebenteilige Paravent auf der Bühne nicht nur Wand, Gardine, Mauer, sondern wechselte durch unter-schiedliches Licht, Farbwechsel und Videos (mehrere Autoren) ständig Ausse-hen, Schauplatz und Bedeutung, war auch Folie für Schattenbilder und flehend erhobene Hände. Die Kostüme fügten sich hier wunderbar ein. Alcina und Mor-gana hatten im 1. Teil rote Haare und knallbunte Kleider, im 2. Teil dagegen trug Alcina der Handlung entsprechend nur noch grau, besonders fantasievoll war auch Orontes froschgrüner Overall. Dezente Ironie kam auf bei Obertos Kostüm: Annika Boos wirkte darin wie eine Mischung aus Klassenprimus, Amor und Biene Maja.

Überhaupt die Sängerinnen und Sänger: alle auf ganz hohem qualitativen Niveau: Elena Fink als Alcina mit besonders schönen Spitzentönen, Nohad Be-cker (die einzige(!) Gastsängerin) als Bradamante mit ihren leise gesungenen, aber rasanten Koloraturen, Dorothea Brandt und Christian Sturm mit klaren jugendlichen Stimmen als auseinander driftendes und wieder zusammenkom-mendes Paar Morgana und Oronte, der profunde Bass Martin Ohu als Melisso (Bradamantes Lehrer und Begleiter) und die auch bei intensivster Bewegung glasklar und sicher singende Annika Boos als Oberto. Und schließlich Joslyn Rechters (Ruggiero) wohltönende und tragende Stimme, deren Arie „Verdi prati“ direkt vor der Pause ich auch zwei Tage nach der Aufführung noch im Ohr habe.

 

Überhaupt schien es mir, als hätte sich bei dieser Premiere schon nach wenigen Minuten eine „verzauberte“ Stimmung eingestellt, die Sänger konnten leiser und direkter, mit, wenn man es denn so nennen kann, einer entspannten Kon-zentriertheit singen und dadurch ihr Ausdruckspotential noch erweitern. An vielen Stellen hätte man die berühmte Stecknadel fallen hören. Obwohl oft Zwischenbeifall stört: hier war er - und er kam nach jeder Nummer sehr stark - voll angebracht, war er doch auch nicht nur Dank für jede und jeden Einzelnen, sondern auch Dank für das jahrelange Aufgehen im Ensemble.

Dass Dirigent (Boris Brinkmann) und Orchester schon vor dem 2. Teil mit Bravos empfangen werden, ist selten. Hier war es der Lohn für differenzierte Begleitung der Sänger. In besonders schöner Weise wurden unterschiedliche Instrumente zur Charakterisierung verwendet, so Oboen, Blockflöten und im 2. Teil Naturhörner. Besonders berührend war das Duo Morganas mit einer Gambe – in dieser Arie wurde das Continuo so sparsam eingesetzt, dass über weite Strecken nur diese beiden Stimmen erklangen und eine innige Verbindung eingingen. Eine kleine Einschränkung: Es war eine hervorragende Idee, das umfangreiche Continuo auf Rechts- und Linksaußen zu verteilen – auf jeder Seite je ein Kontrabass und ein Cembalo, recht zusätzlich eine Theorbe, links Harfe und Gambe. Das hätte hervorragend genutzt werden können, bestimmte Arien der einen oder anderen Seite zuzuordnen oder sogar im Sinne einer zum Thema passenden zauberartigen Verwirrung zwischen beiden abzuwechseln. Das geschah aber leider nicht, war zumindest nicht hörbar. Andererseits konnte man genießen, wie die Rezitative der Handlung entsprechen sehr individuell gestaltet wurden und viel Raum für freie Kadenzen der SängerInnen gelassen wurde.

Wieder eie starke Leistung eines lange hervorragend aufeinander eingespielten Ensembles. Der riesige Beifall für alle steigerte sich noch einmal beim Regieteam und ging dann in standing ovations über. Natürlich: zuerst Dank an alle Beteiligten, nach meinem Eindruck aber auch eine Demonstration für das Ensembletheater, so wie Wuppertal es bis jetzt kennt und liebt und das es in der nächsten Saison nicht mehr geben wird.

 

Fritz Gerwinn

25.3.2014