Hagen

Hoher Anspruch, eingelöst
Peter Eötvös´ Oper „Drei Schwestern“ in Hagen
Premiere am 25. März 2023
Keine leichte Kost im Hagener Theater, aber hervorragend dargeboten. Gefordert waren nicht nur alle Mitwirkenden, sondern auch die Zuschauer mussten sich sehr tiefgehend auf die Oper von Peter Eötvös einlassen. Immerhin gilt diese 1998 herausgekommene Oper als relativ viel gespieltes Standardwerk.
Grundlage seiner Oper ist das resignative Theaterstück von Anton Tschechow, 1901 herausgekommen. Interpretiert wird das oft als Spiegelbild der damaligen russischen Gesellschaft, die einige Jahre später dann von der Revolution zerschlagen wird. Drei Schwestern, Olga, Mascha und Irina, und ihr Bruder Andrej sitzen in einer Kleinstadt in der Provinz und sehnen sich nach Moskau, kommen aber allesamt nicht voran und geben nach und nach ihre Pläne und Wünsche auf. Die einzige aktive Person ist Natascha, Andrejs Frau, die, etwas einfacher gestrickt, ihre Interessen auf manchmal unverschämte Art und Weise durchsetzt. Tschechows Stück markiert den Beginn des modernen Theaters, weil kein Zielkonflikt angesteuert und gelöst wird, sondern einfach viel geredet wird. Godot lässt schon grüßen. Das Theaterstück kommt im Hagener Theater ebenfalls heraus, Premiere ist am 15. April. Ein Vergleich ist also möglich und angebracht.
Eötvös´ Oper dekonstruiert das über vier Akte und fünf Jahre laufende Drama völlig, lässt es in ganz anderem Licht erscheinen. Die Zeitstruktur wird vollkommen aufgelöst. Wir erleben ähnliche oder gar dieselben Ereignisse dreimal, in drei Sequenzen aus der Perspektive von drei Personen. Die erste, sehr ausführliche, gibt die Sichtweise von Irina, der jüngsten Schwester wieder. Zwei Offiziere der Garnison wollen sie heiraten. Zwar liebt sie beide nicht, stimmt schließlich aber doch der Heirat mit einem von ihnen zu. Der wird aber von seinem Rivalen im Duell erschossen. In der zweiten steht Andrej, ihr Bruder im Mittelpunkt, aber auch der Konflikt zwischen den drei Schwestern und Andrejs übergriffiger und ihn betrügende Frau Natascha, mit der aber auch Andrej, der Professor in Moskau werden wollte, schon lange nichts mehr anfangen kann. Die dritte Episode behandelt dann die Perspektive von Mascha, der zweiten Schwester. Die ist zwar verheiratet, liebt aber den Stadtkommandanten. Den muss sie aber ziehen lassen, weil die ganze Garnison in eine andere Gegend verlegt wird.
Wenn sich der Vorhang hebt, ist eine volle Bühne (Bühne und Kostüme: Tassilo Tesche) zu sehen, eher eine Installation als ein Bühnenbild. Das gesamte Hagener Orchester sitzt auf der Bühne, nur vorne in der Mitte ist Platz für eine weiße Decke, die in jeder Episode erneuert wird. Darauf und um sie herum singen und spielen die SängerInnen, agieren aber auch mitten im Orchester. Ganz oben auf der Bühne sind große Spiegel angebracht, die das Geschehen aus zusätzlichen Perspektiven wiedergeben und verdoppeln, aber auch ein wenig verwirren. So erscheint ganz am Anfang die rot gekleidete Natascha, die, wenn man so will, einzige aktive Person, in mehreren Spiegeln, so dass man meinen könnte, mehrere Personen vor sich zu haben. Im Orchestergraben sitzt dann noch ein zweites Orchester, mit 18 Solisten deutlich kleiner als das Sinfonieorchester auf der Bühne. Hier ist es den Hagenern gelungen, das auf neue Musik spezialisierte „Ensemble Musikfabrik“ zu verpflichten. Dieses soll nach dem Willen des Komponisten die Figuren und deren persönliche Beziehungen darstellen, während das große Orchester auf der Bühne bestimmte spezifische Klangeffekte erzeugen soll, „um dieses ganze physische, psychische und gesellschaftliche Chaos darzustellen“ (Eötvös). Konsequenterweise gab es also zwei Dirigenten: GMD Joseph Trafton dirigierte das Solistenensemble im Graben, Taepyeong Kwak das Orchester auf der Bühne. Der stand hinter einem hohen Stuhlstapel, der wohl auf den unaufgeräumten Stillstand des Geschehens hinweisen sollte, war aber auf den Spiegeln immer wieder zu sehen.
Um dies sehend und hörend nachvollziehen zu können, ist bei den Zuschauern hohe Konzentration und Aufmerksamkeit vonnöten. Immerhin war einiges ohne weiteres zu begreifen, etwa die in allen drei Sequenzen vorkommende Feuersbrunst, die die halbe Stadt zerstörte. Hier hatte das große Orchester viel zu tun, wurde außerdem noch von Scheinwerfern unterstützt. Oft war es aber nicht ganz einfach, die beiden Orchester auseinander zu halten. Auch die kompositorische Entscheidung von Peter Eötvös, jede Person mit einem bestimmten Instrument, einer bestimmten Klangfarbe zu verbinden, wurde nicht immer deutlich, konnte wohl am besten assoziativ wahrgenommen werden. Zwei Personen kamen aber sehr eindeutig im Publikum an. Einmal war es die Werbung des Offiziers Soljony – einer der Rivalen um Irina -, der von Pauken begleitet singt (Valentin Ruckebier). Seine Brautwerbung klingt dadurch sehr bedrohlich, zumal er ankündigt, den Mitbewerber zu töten, falls Irina sich für diesen entscheiden sollte. Das geschieht dann auch.
In der zweiten leicht erkennbaren und sogar etwas komödiantischen Verbindung wird dem unfähigen Doktor die Posaune zugesellt. Das passt gut, weil die Posaune die Bewegungen des ständig schwer betrunkenen Militärarztes hervorragend spiegeln kann. Insgesamt näherte sich die Komposition nur sehr selten der Dur-Moll-Thematik an. Es war auch nicht einfach, dem Geschehen und den Facetten der Komposition zu folgen, weil russisch gesungen wurde und der Blick auf die Übertitel notwendig war, zwischen diesen und dem Bühnengeschehen also immer gewechselt werden musste. Immerhin hatte die Regie (Friederike Blum) die Handlung auf eine weiße Decke konzentriert, auf der und um sie alles Wichtige passierte. Allerdings wurde auch das Orchester mit einbezogen. Auch die starren Soldatenmäntel für alle Personen waren ein guter Einfall. Das lässt sich so interpretieren, dass die Personen konventionell agierten, wenn sie so einen Mantel trugen, sich aber ein wenig öffneten, wenn sie ihn auszogen. Aber auch dann scheiterte die Kommunikation immer wieder. Insofern geht diese kompositorische Interpretation weit über die Kritik der russischen Gesellschaft um 1900 hinaus und weist ins Aktuelle und Allgemeine.
Dass die Sängerinnen und Sänger ihre Partien sehr genau und sinnfällig auf die Bühne brachten und auch schauspielerisch große Klasse zeigten, war bewundernswert. Da gab es keine Ausfälle, die 13 Aktiven waren aus Ensemblemitgliedern und Gästen zusammengesetzt. Irina wurde von Dorothea Brand, Mascha von Maria Markina, Olga von Lucie Ceralová gesungen. Andrej, den Bruder dieser drei Schwestern sang Kenneth Mattice, dessen Frau Natascha Vera Ivanovic. Mir in Erinnerung bleibt ihr Auftritt in der zweiten Sequenz, in der sie schauspielerisch total aus sich herausgeht. Auch der Doktor, Anton Kuzenok, hat einen solchen brillanten Auftritt in der ersten Sequenz. Beide wurden am Ende wohl auch deshalb mit besonderem Beifall belohnt. Aber auch die anderen, hier nicht namentlich genannten, sangen und agierten auf hohem Niveau. Sehr beklatscht wurden auch die beiden Dirigenten, beide Orchester und das Regieteam.
Langer Beifall für dieses gelungene und avancierte Unternehmen
Fritz Gerwinn, 27.3.2023        ,
Weitere Vorstellungen: 1.4., 9.4., 30.4, 20.5.2023