Wuppertal

Umjubelte Aufführung von Bizets „Carmen“

 

Premiere am 30.6.2018

 

Wuppertal hat wieder eine Carmen, und zwar eine, die sich sehen lassen kann. Tolle Sänger, ein rasantes Orchester, bemerkenswerte Regie, exzellente Chöre. Diese Inszenierung sollte man sich nicht entgehen lassen.

 

Auf dem Plakat zur Oper ein Blick in eine Stierkampfarena. Und aus den hohen, den Kampfplatz umgebenden Holzbarrieren, in einzelne Elemente geteilt, besteht das Bühnenbild (Luis Carvalho). Durch Herunterlassen und Umgruppierung dieser Elemente können die wechselnden Schauplätze sehr schnell dargestellt werden, am Schluss bildet sich sogar tatsächlich eine Stierkampfarena. Zwei deutlich sichtbare Kreise auf dem Bühnenboden bestätigen den Arenacharakter. Die Handlung spielt sich also in einer Arena ab, ist ja auch ein blutiger Kampf mit tödlichem Ausgang.

 

In diesem Sinne fokussiert die Regisseurin Candice Edmunds das Geschehen auf die vier Hauptpersonen – Carmen, Don José, Micaela, Escamillo. Die anderen Personen treten demgegenüber etwas zurück, erfahren aber doch geschärftes Profil. Und die beiden Chöre singen nicht nur, sondern werden von Regie und Choreographie (Neil Bettles) auch exzellent bewegt. Worauf vollkommen verzichtet wird, ist z.B. die realistische Darstellung des Volksgewusels in der ersten Szene vor der Zigarettenfabrik und im letzten Akt vor der Arena, im Mittelpunkt stehen die aktuelle Handlung und Kommunikation und Konflikte zwischen den Personen. Die Übergänge zwischen den einzelnen Szenen sind nicht fließend, sondern klar markiert: die einen verlassen die Bühne (bzw. die Arena), die anderen kommen. Das ist ein Verfremdungseffekt, der jegliche Illusion und Identifikation ausschließt.

Das führt auch dazu, dass realistische Elemente handlungsmäßig nicht umgesetzt werden: die Wachablösung im 1. Akt wird nur gesungen, später sind wieder dieselben Soldaten auf der Bühne, die dann auch noch für die nächste Szene selber die Stühle wegräumen. Wenn der Offizier Zuniga im 2. Akt davon singt, dass er die Tür aufbrechen will, ist da gar keine; und der Messerkampf im 3. Akt zwischen Don José und Escamillo findet ohne Messer statt. Benutzt werden häufig auch Rollwagen, auf denen mehrere Personen Platz haben. Zwei davon stehen sich beim Streit der Zigarettenarbeiterinnen im 1. Akt gegenüber, garantieren nicht nur viel Bewegung, sondern auch guten Kontakt zur Dirigentin und damit präzises Singen. Einer dieser Rollwagen wird schon während der Ouverture mehrfach hin- und hergefahren und deutet, einem Trailer ähnlich, mit kleinen Szenen die folgende Handlung an. Einiges wird auch symbolisch dargestellt: so wirft Carmen die zur Verführung benutzte Blume nicht selbst Don José vor die Füße, sondern lässt das von drei Zigarettenarbeiterinnen erledigen. Schließlich passen zu dieser Vorgehensweise auch noch einige Revue-Elemente: Bei Carmens Auftrittslied bilden Zigarettenarbeiterinnen und Soldaten tanzende Paare, in Lillas Pastias Kneipe bewegen sich die Besucher synchron mit flamencoähnlichen Bewegungen und trinken im Akkord, und wenn Carmen im 2. Akt für Don José tanzt und singt, findet im Hintergrund ein angedeutetes Ballett von drei auf Stühlen sitzenden Frauen statt.

 

Wenn so vorgegangen wird, funktioniert das natürlich nur, wenn die Personenregie stimmt. Und in dieser Hinsicht hat Candice Edmunds präzise gearbeitet. Schon bei den kleineren Rollen werden die Personen genauestens charakterisiert, umso mehr bei den Hauptpersonen. Zwei Beispiele: Im 1. Akt soll die offensichtlich für Don José schwärmende Micaela ihm einen Kuss von seiner Mutter geben. Don José lässt aber nur einen Kuss auf seine Stirn zu; Micaela Gefühle verlöschen dann schlagartig, als er ihr den Kuss zurückgibt, aber wieder nur auf die Stirn. Enttäuscht verlässt sie ihn. Obwohl Don José danach singt, dass er Micaela heiraten will, wird sehr deutlich gemacht, dass er das nur aus Pflichtgefühl seiner Mutter gegenüber tun würde. Und im 3. Akt wird das Terzett Carmen – Don José – Micaela genauestens ausagiert. Seine Abhängigkeit von Carmen wird überdeutlich, und klar wird auch, dass Micaela nur auf Wunsch der im Sterben liegenden Mutter sich in diese unwirtliche Bergwelt gewagt hat, sie keinen Funken Mitgefühl mehr für José hat und ihre Wut auf ihn ständig steigt.

 

Brillant auch die Chorführung durch Regie und Choreographie: Im 1. Akt kommen zuerst einzelne Personen des Kinderchors auf die Bühne und ärgern die Soldaten, formieren sich dann, immer singend, zuerst zu einer Kampfszene mit Toten und spielen dann ein Hinrichtung nach. Eine Szene – sonst gerne positiv als pure Imitation des Marschierens inszeniert - , die schockiert und auf das Leid der Kindersoldaten heutzutage hinweist.

Auch Chor und Extrachor haben große Auftritte. Im 1. Akt fällt das machohafte Bedrängen Micaelas durch die Soldateska auf, das im Gegensatz steht zu dem noch einigermaßen höflichen gesungenen Text. Ein besonderes Kabinettstückchen liefert der Chor im 4. Akt. Nur durch Drehen des Kopfes, Positionswechsel und intensives Spiel wird die Ankunft der Picadores und anderen Stierkämpfer äußerst lebendig und dazu noch humorvoll dargestellt. Am Schluss dieses Auftrittes zeigen sich die Vorteile der gewählten Bühnenbildkonstruktion. Der Chor tritt nur wenige Schritte zurück, wird dann von den von oben kommenden arenabildenden Elementen verdeckt und gibt so die Szene frei für die dann folgende Handlung.

Chordirektor Markus Baisch hatte in musikalischer Hinsicht bei beiden Chören für hohes Niveau gesorgt. Vor allem beim Kinderchor konnte man Sicherheit und Selbstbewusstsein in Gesang und Aktion bewundern, was bei Kindern in diesem Alter nicht selbstverständlich ist.

 

Die gesanglichen Leistungen waren ebenfalls sehr hoch. Die kleineren Rollen wurden vom Wuppertaler Ensemble mit Leben erfüllt. Joyce Tripiciano und Ralitsa Ralinova spielten die Zigeunerinnen Frasquita und Mercédès, Ralinovas hoher Sopran gab dazu in Ensembles der Oberstimme besonderen Glanz. Timothy Connor (als Gast) und Mark Bowman-Hester überzeugten als Schmuggler, Simon Stricker und Sebastian Campione als Soldaten. Die Besetzung der Hauptrollen war international, alles junge Sängerinnen und Sänger, die diese Rollen schon öfter gesungen hatten. Der machohafte Escamillo wurde mit sonorer Stimme vom russischen Bariton Dmitry Lavrov gesungen, Micaela von der tasmanischen Sopranistin Bryony Dwyer, die nicht nur eine wunderbare lyrische Stimme hatte, sondern auch hervorragend spielte. Dies gilt auch für die Darsteller des Don José und Carmens. Der schwedische Tenor Joachim Bäckström produzierte ganz frei und ohne jegliche Ermüdungserscheinungen strahlende hohe Töne, und die litauische Messosopranistin Ieva Prudnikovaite überzeugte von ihrem Auftrittslied an in jeder Hinsicht. Beim frenetischen Schlussbeifall zeigten sich alle erkennbar hocherfreut, in Wuppertal so gut angekommen zu sein.

 

Last not least das Orchester, das unter der Leitung von Julia Jones schon nach der Pause einen Sonderbeifall bekam. Es spielte intensiv und lebendig, war vor allem immer genau mit der Handlung verzahnt, bewältigte Fermaten und Tempoänderungen brillant und hatte einen riesigen Lautstärkeambitus von ganz leise bis extrem laut. Ein Beispiel für lyrisch-leises Spiel war das Vorspiel zum dritten Akt, andererseits wurden an anderen Stellen grelle Blechbläserakzente genau auf den Punkt gebracht, Fortissimo-Spannungsakkorde wurden oft kürzer als erwartet, aber sehr präzise gespielt. Und sängerfreundlich war Jones´ Dirigat auch, als Beispiel sei Micaelas Arie im 3. Akt genannt (Sonderlob für Horn und Cello!): Hier konnte Bryony Dwyer ihre Emotionen voll auskosten, wusste, dass sie bei langen, leisen Tönen nicht überdeckt, bei lauteren Ausbrüchen aber voll unterstützt wurde. Auch der Gegensatz vom häufig unbeherrschten José und der coolen, selbstsicheren Carmen wurde musikalisch perfekt deutlich gemacht. Und schließlich sei noch der musikalisch hervorragend herausgearbeitete Zusammenprall zweier musikalischer Welten im Kartenterzett im 3. Akt genannt, in dem die träge, fast nicht vom Fleck kommende Musik der todgeweihten Carmen dem fröhlichen Gezwitscher von Frasquita und Mercédès gegenübersteht.

 

Von allen Beteiligten also eine hervorragende Leistung. Kein Wunder, dass das Wuppertaler Publikum im Stehen minutenlang klatschte.

 

Fritz Gerwinn, 2.7.2018

 

Weitere Aufführungen: 5.7., 7.7., 12.7., 15.7.2018

Wiederaufnahme