Foto: Jens Grossmann
Foto: Jens Grossmann

Ambitioniertes Experiment
EUROPERAS 2 und 1 von John Cage


Premiere im Wuppertaler Opernhaus am 2. Februar 2019

 

 Wer im Wuppertaler Opernhaus in der „Rocky Horror Show“ begeistert Reis und Klopapier geworfen und Eliza Doolittles Aufstieg per Sprache in „My fair Lady“ erlebt hat, wird sich in Cages „Europeras“ nicht besonders wohl gefühlt haben. Ein anderes Publikum war vertreten, wurde miteinbezogen, hatte zum großen Teil seinen Spaß. Auch hatte man durchgängig den Eindruck, dass die Akteure auf der Bühne und im Orchestergraben, also Solisten, Musiker, Statisten, Techniker, mit Freude und großem Engagement bei der Sache waren. Entsprechend wurden sie am Schluss gefeiert. Diesmal nahmen sogar die Orchestermusiker auf der Bühne den großen Beifall entgegen. Experiment gelungen, könnte man sagen. Die Wuppertaler Oper hat wieder einmal gezeigt, dass es viel von großer Bandbreite der inszenatorischen Möglichkeiten hält, auch Experimentelles wagt und unterschiedliche Publikumsschichten damit ins Haus holt.

 

Dabei begann es mit den „Europeras 2“ etwas zäh. Johannes Pell, der nicht dirigierte, sondern nur die musikalischen Einzelteile koordinierte, hatte schon in der Matineée eine Woche vor der Premiere gewarnt: In der ersten Viertelstunde werden Sie von der Masse des Materials erschlagen, danach werden Sie einen eigenen individuellen Umgangsfaden finden. Dieses „Erschlagen-Sein“ dauerte wegen der Komplexität dieses Teils so lange wie dieser, 45 Minuten. Deshalb gingen einige Besucher schon unterwegs oder in der Pause, verpassten dadurch den lockerer gefügten und damit leichter begreifbaren und witzigeren zweiten Teil, die „Europeras 1“, der immerhin anderthalb Stunden dauerte.

 

Die „Europeras“ bestehen insgesamt aus fünf Teilen, zwei davon wurden diesmal aufgeführt, der zweite Teil vor der Pause, der erste danach. John Cage, der Komponist, nicht nur im Bereich der Musik einer der einflussreichsten Künstler des 20. Jahrhunderts, hatte für das Stück keine einzige Note selbst geschrieben, sondern das Material aus 84 europäischen Opern nach dem Zufallsprinzip entnommen. Er war stark beeinflusst vom chinesischen Orakelbuch „I-Ging“, in seiner Kunst (und wohl auch in seinem Leben) spielte der Zufall eine ganz entscheidende Rolle. Cages Kunstauffassung bildete so ein starkes Gegengewicht zum in den 50er und 60er Jahren herrschenden Serialismus, in dem alle Parameter der Musik in feste Reihen gepresst wurden, so dass sich das Werk aus diesen Reihen sozusagen selbst komponierte. Das Material: Arien aus Opern (ohne Begleitung!), Orchesterstimmen (einzeln, nicht immer mit Originalinstrumenten), Bühnenbildelemente, Kostüme, Requisiten Videobilder, Bild- und Texttafeln. Die Bühne ist in 64 Felder eingeteilt. Was gesungen wird, was erklingt, was dazukommt, wie lange etwas dauern und auf welchem Feld das passieren soll, all das muss nach dem Zufallsprinzip ausgewürfelt werden. Dieser umfangreichen Aufgabe hatte sich Daniel Wetzel von Rimini Protokoll gestellt, das die Kunstformen weiterentwickeln will, um „ungewöhnliche Sichtweisen auf unsere Wirklichkeit zu ermöglichen“. Seine Regiearbeit wurde unterstützt von Alexander Fahima, Katrin Wittig sorgte für Bühne und Kostüme. War etwas ausgewürfelt, musste es inszeniert werden. Und bei diesem Opernzirkus hatten alle Beteiligten offenbar großen Spaß. Dieser, so mein Eindruck, übertrug sich im zweiten Teil, bei „Europeras 1“, auch auf das Publikum, vor allem deshalb, weil es beteiligt und damit zum Mitspieler wurde. Unter dem Sitz fanden die Zuschauer Aktionskarten. So musste man zu einer genau angegebenen Zeit aufstehen und sich umdrehen, sich recken, ein Selfie machen, mitsingen, mit der Nachbarin den Platz wechseln etc. Und auf der Bühne passierte ständig Überraschendes.

 

Jede Menge Arien (bzw. Teile davon) wurden gesungen. Versierte Opernkenner konnten hier ein privates „Erkennen Sie die Melodie?“ spielen, ich selbst habe in diesem Teil nur wenig erkannt; so singt der Wuppertaler Bass Sebastian Campione z.B. die Gold-Arie des Rocco aus „Fidelio“, zu dem er aber ein Riesenschwert schwingen muss und ein gar nicht dazu passendes Kostüm trägt. Sehr vergnüglich ist der Gegensatz von Traviata (Verdi) und Königin der Nacht (Mozart), gleichzeitig gesungen. Auch Kaspar aus Webers „Freischütz“ musste zu seiner Arie mit einem Schwert hantieren. Die Musiker des Orchesters saßen im etwas hochgefahrenen Orchestergraben, jeder hatte seine eigene Zeitangabe und Stimme (erkennbar z.B.: Walküre). Die Blechbläser saßen aber auch eine ganze Zeitlang im ersten Stock auf der Bühne. Zu identifizieren, was aus welchem Stück stammt, war schwierig, weil sich immer etwas Gegensätzliches dazugesellte. Das Erkennen war aber wohl auch nicht wichtig, entscheidend (und vergnüglich und nachdenkenswert) waren die Klangereignisse an sich und deren Zusätze durch Kostüm, Bühne, Requisiten, Texte, Statisten.

 

Und da gibt es jede Menge Überraschungen, oft einiges gleichzeitig. So teilen die Lichtstatisten mit: Wir sind das Libretto-Prekariat. Platon spielt eine wichtige Rolle: das ist aber nicht der Philosoph, sondern der Name eines griechischen Restaurants an der Uellendahler Straße, dessen Wirt beim Auswürfeln geholfen hat. Der Wuppertaler Startenor Sangmin Jeon erscheint im Frauen/Priester?kleid, singt aber ganz andere Sachen. Jemand will unbedingt das Gedicht „Karawane“ von Hugo Ball (ba umpf) vortragen, tut es aber doch nicht. Der Countertenor Denis Lakey muss mit einem Riesenrock klarkommen, eine Sängerin singt auf einem Fahrrad, eine wird singend in den Bühnenhimmel gehoben. Die Statisten haben einiges zu tun, tragen z.B. Fackeln, ohne dass sonst irgendetwas passiert, und auch die Bühnenmaschinerie spielt eine umfangreiche, genau ausgewürfelte Rolle. Etliche Requisiten kommen vor, auch aus früheren Produktionen, so z.B. die riesigen Entenköpfe aus dem „Universums-Stulp“, eine Schlange kriecht über die Bühne, eine Holzfigur kommt kopfüber aus dem Bühnenhimmel, eine Sängerin scheint aus einem großen Fliegenpilz heraus zu singen. Auch die Bühnentechnik kommt zu ihrem Recht. Die Scheinwerferbrücken senken sich auf die leere Bühne, werden dann in unterschiedlicher Weise wieder hochgezogen. Mittendrin wird ein Zwischenvorhang zugezogen, während unterschiedliche Instrumentalstimmen weiter erklingen. Hintergrundbilder werden von einem Pult auf der Bühne eingeblendet, einmal war sogar ein altes Bühnenbild aus der „Bluthochzeit“ zu erkennen. Schließlich werden auf Schildern Texte gezeigt, z.T. eher absurd („Ab heute werde ich nicht mehr jünger“), z.T. mit politischen Aussagen zu Europa, zum Titel passend.

Wie schon gesagt: Spürbar hatten alle Mitwirkenden große Freude an dem, was sie zu tun hatten. Dies sah man Technikern, Statisten, Sängerinnen und Sängern an. Das komplette Wuppertaler Ensemble, angereichert mit einigen Gästen, sangen und spielten ihre Parts mit Bravour, ebenso wie die Musiker des Wuppertaler Orchesters, die zusammen mit den anderen Mitwirkenden auch den Beifall am Schluss auf der Bühne genießen durften.

 

Um diesen deutlich interessanten Teil, die „Europeras 1“ zu erreichen, musste man aber erst die 45minütigen „Europeras 2“ überstehen. Auch dieser Teil war gut gemeint und ambitioniert, überforderte aber wohl viele Besucher. Auf mehr als zehn unterschiedlich großen Tafeln wurden Videos plaziert, mit Sängerinnen und Sängern, die in sieben verschiedenen Städten aufgenommen worden waren, mit historischen und aktuellen Bildern, Regieanweisungen aus Opern usw. Nur ein einziger Mensch, gelegentlich würfelnd, war auf der Bühne zu sehen. Problematisch war, dass außer den Bildern zu viele akustische Ereignisse gleichzeitig abliefen und so ein durchgängiges Klangband entstand, dass Differenzierung und Identifikation einzelner Stücke fast unmöglich machte, deshalb gleichförmig wirkte und auf Dauer (45 Minuten!) Langeweile erzeugte. Und dies ganz im Gegensatz zum doppelt so langen, aber deutlich vergnüglicheren zweiten Teil nach der Pause. Hier gab es zwar auch immer wieder mehrere Ereignisse gleichzeitig, aber doch lockerer gefügt, dass der Nachvollzug viel einfacher war.

 

Vielleicht täte man John Cage einen Gefallen, wenn beide Teile etwas gekürzt würden. Die Provokationshöhe würde nicht sinken, die Überforderung aber wohl abnehmen, Gedanken, was diese Oper denn bewirkt, könnten zunehmen. Ein Vergleich mit Stücken von Pina Bausch böte sich an, die ja zum großen Teil auch wie die „Europeras“ nicht nur keine Geschichte erzählen, sondern „anti-narrativ“ sind. Nachdenken könnte man über einige Sätze aus dem Programmheft, in denen Daniel Wetzel, der Regisseur, über seine Erfahrungen während der Probenzeit berichtet, dass „ein permanentes Abwägen und Beobachten der Werte, deren Erscheinen wir schätzen“ immer wichtiger wurde, „weil sie… den Umgang mit dem feiern, was uns begegnet“. Und man könnte sich angesichts der Betonung des Zufalls bei Cage wieder einmal klarmachen, welche Rolle dieser in unserem Leben spielt und unserer Lebensplanung immer mal wieder in die Parade fährt.

 

Fritz Gerwinn, 4.2.2019

 

Weitere Aufführungen: 10. Februar, 1. März, 6. April