Psychokrimi auf der Bühne
Arnold Schönbergs „Erwartung“ und Ethel Smyths „Der Wald“ im Wuppertaler Opernhaus
Premiere am 7. April 2024
Ein verdienstvoller Abend des Wuppertaler Opernhauses, spannend dazu und von exzellenter musikalischer Qualität!
Zwei wenig gespielte Stücke wurden auf die Bühne gebracht, aber nicht getrennt voneinander mit Pause dazwischen, sondern dank der Regie miteinander verklammert. Auch zeitlich passen beide Werke zusammen. Arnold Schönberg komponierte seine „Erwartung“ 1909, die Engländerin Ethel Smyth ihre Oper „Der Wald“ 1902. In beiden Stücken blickt man in Abgründe, in beiden Stücken steht am Schluss eine Frau allein da, ihr Mann ist tot.
Schon der Beginn deutet darauf hin. Nach dem Auftrittsbeifall für GMD Patrick Hahn wird es dunkel, kein einziges Licht auf der Bühne, im Orchestergraben, im Parkett. Dann erscheint auf der Bühne in Leuchtschrift ein Zitat von Friedrich Nietzsche, der zur Zeit der Komposition beider Stücke extrem einflussreich war. „Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“ Das ist das Motto des Abends. Spannende Geschichten, viel zum Nachdenken.
Wenn das Licht auf der Bühne und im Orchester wieder angeht, befinden wir uns in einer Art Hotelfoyer, in dessen Mitte ein großformatiges expressionistisches Gemälde hängt (der Wald?). In diesem Raum, nicht im Wald des Librettos, sucht eine Frau ihren seit drei Tagen vermissten Mann. Sie agiert schon, bevor die Musik erst nach einer langen Pause einsetzt. Die Frau erlebt ihre Wahnvorstellungen in diesem Raum, in dem sie auch noch eingesperrt ist. Ihre ständig wechselnden Gefühle bei der Suche nach ihrem Mann, oft unterschiedlich und gleichzeitig, werden szenisch, sängerisch und musikalisch dargestellt. Die Psychose der Frau wird schon durch das Libretto deutlich gemacht. Es enthält fast nur Wort- und Gedankenfetzen, fast keinen einzigen vollständigen Satz. Die Musik im Orchester entspricht dem. Viele Motive werden verwendet, immer wieder neue, eine stringente Entwicklung der Musik findet nicht statt, begleitet den Gesang, der die psychischen Situation der Sängerin konsequent abbildet, wie in einem Film. Hanna Larissa Naujoks, die die Frau sang und spielte, füllte ihre Rolle brillant aus, wurde ebenso präzise vom Orchester begleitet, passend zu ihrer psychischen Situation mit genau ausgearbeiteten Motiven und großen Lautstärkeunterschieden, dass man diesem Psychokrimi atemlos folgen konnte, und die atonale Musik Schönbergs erhöhte noch die Spannung.
Dabei bleibt die Frau in diesem etwa halbstündigen Stück nicht allein. In ihren Wahnvorstellungen treten auch andere Personen auf, die im zweiten Teil eine Rolle spielen. Ein Hausierer schaut zum Fenster herein, ihr toter Mann erscheint mit einer Axt, der gesamte Chor geistert durch den Raum, und das Reh aus der Oper von Smyth fällt ihr aus einem Schrank entgegen. Und wenn die Frau singt: „Nun küss ich mich an dir zu Tode“, erinnern Text und szenische Umsetzung an die Szene Salome – Jochanaan aus der Oper von Richard Strauss, vier Jahre vorher komponiert. Bemerkenswert der Schluss dieses Teils: die Frau zerstört mit der Axt das Gemälde.
Dann setzt die Musik von Ethel Smyth ein, ganz anders als die von Schönberg. Sie erinnert an Brahms und Wagner, an diesen auch im verwendeten Sprachstil. Die Frau ist immer noch auf der Bühne, die sich nach hinten geweitet hat (Bühne und Kostüme: Julia Katharina Berndt). Ihr entgegen kommt eine andere Frau, die aber genauso in Weiß gekleidet ist wie sie. Eine kommt nach vorne, die andere verschwindet im Hintergrund, eine übernimmt sozusagen Rolle und Schicksal der anderen. Das ist Röschen, eine der beiden wichtigen Frauenrollen im „Wald“.
Die Oper von Ethel Smyth ist ungeheuer vielschichtig. Am Anfang und ebenso am Ende beschwören die Waldgeister die Kürze des Lebens im Gegensatz zur Ewigkeit der Natur. Dazwischen ist die eigentliche Geschichte eingebettet. Röschen, als rein und unschuldig dargestellt, steht am Vorabend ihrer Hochzeit mit dem Holzfäller Heinrich, der aber noch arbeiten muss. Er erscheint schließlich mit dem Hochzeitsbraten, einem gewilderten Reh, das er verstecken muss, weil Wildern bei Todesstrafe verboten ist. Die sie umgebende Waldgesellschaft ist aber sehr bösartig zu Röschen, das „Necken der Braut“ wirkt ziemlich gewalttätig, auch beim anschließenden Tanz haben die Frauen nichts zu lachen. Und Peter, Röschens Vater, packt seine Sachen und will nur weg. Auch der dann mit einem „Bärenkind“ auftauchende Hausierer wird nicht gut behandelt, findet dann nicht einmal den Weg aus dem Wald. Immerhin folgt dann ein längeres Duett, in dem Röschen und Heinrich ihre gegenseitige Zuneigung besingen. Plötzlich erscheint dann aber Jolanthe, die als Hexe bezeichnet wird, verfolgt von ihrem abgelegten Liebhaber, dem Landgrafen Rudolf. Der hat keine Macht mehr über sie, kann aber Heinrich zum Tode verurteilen, weil das gewilderte Reh entdeckt wird. Jolanthe, die ein Auge auf ihn geworfen hat, will ihn retten, wenn er ihr folgt, aber Heinrich weigert sich und steht zu seiner Braut, so dass er sterben muss. Am Schluss erscheint dann wieder die Frau aus der „Erwartung“ und fängt den Sterbenden auf, ehe der Chor der Waldgeister das Stück beendet. So wird das Schicksal der beiden Frauen ein weiteres Mal verklammert. Auch das zerstörte Bild aus dem ersten Teil wird wieder heruntergelassen. Diese Verklammerung ist das große Verdienst des Regisseurs Manuel Schmitt, der beide Stücke zusammensieht und dadurch zu einer Einheit macht.
Auch im zweiten Teil waren die Gesangsleistungen exzellent. Mariya Taniguchi sang Röschen, drückte die Seelenzustände der Person von der anfänglichen Freude bis zur absoluten Hoffnungslosigkeit am Schluss in Spiel und Gesang hervorragend aus. Der krasse Gegensatz zu ihr, die „femme fatale“ Jolanthe, die nur ihrer Lust folgt, wurde von Edith Grossman verkörpert. Ihre Macht und Zielgerichtetheit zeigte sie durch ihre markante Stimme. Den armen Heinrich sang Sangmin Jeon deutlich artikuliert mit kernig leuchtender Stimme. Besonders im Liebesduett mit Röschen zeigte sich, dass die Strahlkraft seiner Stimme noch zugenommen hat. Samueol Park als Landgraf zeigte mit robusten Stimmbändern, dass er es als Adliger gewöhnt ist zu befehlen und die Situation zu beherrschen, was ihm nur bei Jolanthe nicht gelingt. Auch Zachary Wilson als Hausierer und Erik Rousi als Vater Peter sangen und agierten ohne Fehl und Tadel. Eine wichtige Rolle im zweiten Teil spielte auch der Chor, der nicht nur hervorragend sang, sondern sich auch sehr spielfreudig zeigte und vor allem im bedrohlichen Hochzeitstanz eindringlich choreographiert war.
Und dann noch das Orchester unter Patrick Hahn! Schon im ersten Tal waren die vielfältigen musikalischen Motive brillant herausgearbeitet, was sich in Smyth´ Oper nahtlos fortsetzte, trotz der ganz anderen musikalischen Sprache. Die Unterschiedlichkeit der einzelnen Abschnitte und die verschiedenen Charaktere der Personen wurden sehr deutlich gemacht. Und dass das Orchester die Sänger unterstützte und niemals zudeckte, zeigte sich besonders im Liebesduett im zweiten Teil. Wieder eine große Leistung des Orchesters!
Großer und langanhaltender Beifall. Unbedingt zu erwähnen: Die Dramaturgin Laura Knoll präsentiert im Internet vielfältige und tiefgehende Informationen zu beiden Stücken. Sehr lesenswert!
Fritz Gerwinn, 9.4.2024
Weitere Vorstellungen: 28.4., 4.5., 10.5., 18.5.2024

 

Händel: Alcina, Foto: Bettina Stoess

 

Wuppertal

 

Barockoper in neuer Interpretation
Händels „Alcina“ im Wuppertaler Opernhaus
(Premiere am 9.3., besuchte Vorstellung am 16.3.2024)
Zaubern? Heute? Und wie Alcina Männer becircen, sie längere Zeit genießen und sie dann in Tiere oder Steine verwandeln? Geht gar nicht. Das ist eine Geschichte, fern von jeglicher Wirklichkeit, die uns nicht mehr mitnimmt. Und da Oper nicht nur musikalischen Genuss bieten, sondern auch das Denken in Bewegung bringen soll, hat Regisseurin Julia Burbach einen anderen Weg beschritten. Sie holt Händels Oper nicht nur mit barocker Pracht auf die Bühne, sondern auch in die Gegenwart.
Wie macht sie das? Zuerst einmal gibt sie dem Stück einen Rahmen. Am Anfang, die Musik spielt noch nicht, trifft Alcina im Foyer eines Plattenbaus ihren ehemaligen Liebhaber Ruggiero, der die Beziehung mit ihr beendet hat. Der wendet sich aber bald von ihr ab, um seine neue Liebe, Bradamante zu umarmen, zu küssen und mit ihr zu verschwinden. Sie bleibt allein zurück, deprimiert und verzweifelt. Das ist im Original der Schluss der Oper, hier aber der Anfang. Was soll sie jetzt damit umgehen? Sie tut das, was viele Menschen in ähnlichen, ungeklärten Situationen tun, flieht in eine Traumvorstellung, beseelt von dem Wunsch, dass alles gut ausgeht und so, wie sie sich das wünscht. Dieser Wunschtraum spielt in einem barocken Schloss auf einer Trauminsel. Alcina versucht, alles zu steuern. Das gelingt aber nicht, weil die Realität immer wieder in den Traum einbricht. Wir verfolgen die unterschiedlichen Stadien ihrer Auseinandersetzung mit dem Verlassensein. Und um den Schluss des Rahmens vorwegzunehmen: Sie steht wieder im Foyer des Plattenbaus, ist aber allein, hat ihre Situation offenbar akzeptiert und blickt ohne Altlasten in die Zukunft.
Alcinas Wünsche und die Einbrüche der Realität werden im ersten Teil mit aller Pracht und Intensität dargestellt (Bühne und Kostüme: Cécile Trémolières). Der verzauberte (oder nur krass verliebte) Ruggiero folgt ihr lange Zeit wie ein Hündchen, tut alles, was sie will, beleidigt sogar seine Verlobte Bradamante, die in Männerkleidung als ihr Bruder Ricciardo aufgetaucht ist, um ihn zu retten. Er kommt erst in der Wirklichkeit an, als Bradamantes Begleiter Melisso ihm mit einem symbolischen Ring der Wahrheit die Augen öffnet. Dadurch erkennt Ruggiero Bradamante und beginnt, sich von Alcina abzulösen. Das verwirrende Geschehen verstärken noch das Paar Morgana, Alcinas Schwester, und Oronte, der bei Morgana vollkommen abgemeldet ist, weil die sich in Bradamante/Ricciardo verliebt hat. Der Traum wird immer wieder gestört durch zwei sich immer wieder öffnende und schließende Kammern im Schlossprospekt, in denen dem Traum Bilder der Realität entgegengestellt werden. Dieses Hin- und Herswitchen wird auch durch Kleiderwechsel zweier Personen deutlich gemacht. Bradamante trägt einmal ein Kleid, in anderen Szenen als Ricciardo grobe Seemanskleidung, und Alcina wechselt zwischen ihrem Alltagskleid und der königlichen Robe der Inselherrscherin. Dabei wird sie begleitet und unterstützt von ihrem Hofstaat, der von fünf Tänzerinnen und Tänzern dargestellt wird. Der Handlungsablauf ist gut nachvollziehbar, die Inszenierung ist stimmig bis in die kleinste Geste.
Wenn sich das Vorhang nach der Pause öffnet, ist das Bühnenbild umgedreht, man sieht nur noch die Rückseiten der Schlosskulissen, und die Handlung reduziert sich im Wesentlichen auf ein kleines Gärtlein, das schon im ersten Teil im Hintergrund aufgetaucht war und dessen Funktion nicht ganz klar war. Offenbar hat also Alcinas Macht sich deutlich verkleinert. Ruggiero und Alcina sitzen meistens seitlich davon auf Stühlen, Alcina überlässt den Tänzerinnen und Tänzern, ihre Verzweiflung und Wut gestisch und mimisch auszudrücken, muss am Ende aber Ruggiero ziehen lassen. Dann kann sich der Rahmen schließen.
Im zweiten Teil sind starke Gefühlsäußerungen zu erleben: Wut, Verzweiflung, Eifersucht, aber auch Liebe und Zuneigung, etwa wenn sich Morgana und Oronte wiederfinden. Dieser zweite Teil ist nicht so einfach zu verfolgen wie der erste Teil, auch muss man konstatieren, dass die Konsequenzen der Aktualisierung für manche Opernbesucher nicht sofort nachzuvollziehen sind. Hilfen sind dafür die Einführung, ein Blick ins Programmheft und genaues Verfolgen der Geschehnisse auf der Bühne.
Um eine solche Neuinterpretation der Oper deutlich zu machen und verständlich über die Rampe zu bringen, müssen alle Mitwirkenden an einem Strang ziehen. Das war in jeder Sekunde zu spüren. Sehr zu loben sind alle Sängerinnen und Sänger, die nicht nur hervorragend sangen, sondern auch so spielten. Die machten vor allem bei den in Barockopern häufigen Koloraturen klar, dass es hierbei um Steigerung des Gefühlsausdrucks ging und nicht darum, eine „geläufige Gurgel“ zu präsentieren. Das neue Ensemblemitglied Margaux de Valensart verkörperte die Hauptperson Alcina mit klarer Sopranstimme bis in die höchsten Lagen, Countertenor Randall Scotting als Gast spielte ihren (Ex)-Geliebten Ruggiero trotz unendlich vieler Koloraturen mit offenbar ermüdungsfreier Stimme. Das Retterpaar Bradamante und Melisso konnten wieder aus dem eigenen Ensemble besetzt werden. Edith Grossman bewältigte ihren Part farbenreich und sehr glaubwürdig, Erik Rousi strahlte mit markantem Bass große Sicherheit aus. Subin Park (Morgana) vom Opernstudio NRW gestaltete als lange falsch Verliebte ihre Rolle mit nuancenreichem Sopran und größter Eindringlichkeit, avancierte dadurch zum Publikumsliebling. Sander de Jong als Gast als ihr lange abservierter Freund Oronte lieferte im ersten Teil ein schauspielerische Glanzleistung ab, bevor er im zweiten Teil dann doch noch ein Arie singen durfte und dafür viel Beifall bekam. Die fünf Tänzer belebten in vielen Szenen das Gesamtbild entscheidend (Choreographie Cameron McMillan).
Und dann das Orchester! Das historisch informierte Wuppertaler Ensemble wurde vom Barockspezialisten Dominic Limburg geleitet und lieferte eine sehr lebendige abwechslungsreiche Interpretation ab. Die Tempi waren gut gewählt, dadurch wurden die oft sehr rasanten Koloraturen auf der Bühne mit höchster Präzision unterstützt. Auffallend waren etliche Stellen, bei denen zu den Melodien der Sänger einzelne Stimmen parallel geführt wurden. Und die Dynamikskala war sehr weit gespannt. Besonders glänzend gespielt wurden die Stücke am Schluss, an denen die Hörner beteiligt waren.
Tosender Beifall sowohl in der Premiere als auch in der von mir besuchten zweiten Vorstellung. So eine prachtvolle (und intelligent inszenierte) Barockoper sollte man sich nicht entgehen lassen!
Fritz Gerwinn, 18.3.2024
Weitere Vorstellungen: 22.3., 1.4., 5.5., 14.6.2024

 

LOHENGRIN: Tobias Haaks, Dorothea Herbert, Foto: Volker Beushausen

 

Weg vom Gral!
Wagners „Lohengrin“ in Hagen
Premiere am 25.Februar 2024
Lohengrin ist erschienen, nachdem der Chor, der vorne an der Rampe stand, zur Seite getreten ist. Der Schwan, mit dem er gekommen ist, wird aus dem Untergrund hochgefahren. Aber wieso wird er von zwei schwarzgekleideten Rittern flankiert, die kurz danach auch wieder nach unten abtauchen?
In Hagen hat das Regieteam (Regie: Nelly Danker, Bühne und Video: Robert Pflanz, Kostüme: Amélie Sator) offensichtlich genau das Libretto gelesen und sich mit den Hintergründen der Oper „Lohengrin“ beschäftigt. Präsentiert wird somit eine neue Facette der Geschichte. Lohengrin will den Gral gerne verlassen, wird aber von diesem genauestens kontrolliert. Und weil diese Geschichte märchenhafte Züge trägt, stehen Vögel auf der Bühne, allerdings wie auch in Fabeln mit durchaus menschlichen Eigenschaften.
Zuerst zu den schwarzen Rittern: Sie treten immer wieder auf, wenn es gilt, sicherzustellen, dass Lohengrin im Sinne des Grals handelt. Der will sich von dessen starren Gesetzen absetzen, muss sie aber erst noch befolgen. Deutlich wird das, wenn Lohengrin Elsa zweimal eindringlich verbietet, ihn nach Name und Herkunft zu fragen. Da stehen dann die schwarzen Gralshüter an der Seite, können an den Gral melden, dass er so wie befohlen gehandelt hat, und verschwinden dann gleich wieder. Diese neue Facette der Handlung wird auch gleich am Anfang des 1. Aktes mitgeteilt, wenn Lohengrins und Elsas Gesichter per Video eingeblendet werden und Lohengrin fragt: „Wie komme ich vom Gral los?“.
Und dass „Lohengrin“ ein Märchen mit magischen Elementen ist, wird durch die Vogelkostüme angedeutet. Ziemlich eindeutig zu bestimmen sind dabei Lohengrin und Elsa, die als blauer und weißer Pfau auftreten. Ihre Gegenspielerin Ortrud ist offensichtlich ein Goldfasan, deren von ihr ferngesteuerter Gatte Telramund lässt sich am ehesten mit dem Tragopan (eine Fasanenart) in Verbindung bringen. König Heinrich ist ein Wiedehopf, und der geschwätzige und wichtigtuerische Heerrufer, der dadurch sogar humoristische Momente erzeugt, tritt wohl als Blauhäher auf. Der Chor besteht aus Zugvögeln unterschiedlicher Farbgebungen, die je nach Situation unterschiedliche Allianzen mit den handelnden Figuren eingehen. Sind die gelbgekleideten Frauen ursprünglich Anhängerinnen von Goldfasan Ortrud? Und schwarz (Krähe!) sind die Gralshüter und auch der Schwan.
Und ein neues Element überrascht am Schluss. Nachdem Lohengrin seinen Namen bekanntgeben musste und deshalb seine Kraft verloren hat, sackt er zusammen, wird dann aber wieder aufgerichtet und von den Gralshütern abgeführt. Laut Libretto sollte dann eigentlich Elsa tot zusammenbrechen, die Regie geht aber, weil sie Wagners Kritik an seinem eigenen Schluss aufnahm, einen anderen Weg: Der gesamte Chor sinkt plötzlich um, Elsa bleibt als einzige stehen. Das lässt sich unterschiedlich interpretieren!
Die Handlung aller drei Akte lässt sich gut verfolgen. Im 1. Akt erscheint der Chor in immer neuen Positionen, wird so bewegt, wie eine Volksmenge das auch spontan tut. Dem Regieteam gelingt es aber, den Chor gerade bei entscheidenden Passagen so zu stellen, dass alle nach vorne ins Parkett singen. Der verstärkte Chor (Leitung: Julian Wolf) bewältigt seine umfangreiche Partie grandios, lässt bei Fortissimo-Stellen gelegentlich fast das Haus erzittern. Auffällig ist hier schon das Auftreten der konkurrierenden Paare. Während Elsa und Lohengrin schon kurz nach dessen Erscheinen zueinander finden und sich auch schon liebevoll berühren, wirkt Telramund als Befehlsempfänger seiner Gattin Ortrud, es gibt keine Zärtlichkeit, nicht einmal eine Berührung.
Der 2. Akt mit seinen langen Duettpassagen mit unterschiedlichen Personen wird durch drei große Treppen gestaltet, die bewegt werden und die einzelnen Teile so voneinander trennen. Sehr gut inszeniert ist hier eine Szene, in der der charismatische Lohengrin wie ein beliebter Politiker jede Menge Hände schütteln muss und deshalb erst spät bemerkt, dass Elsa auf der Vorderbühne von Ortrud und Telramund bedrängt wird. In diesem Akt wird auch deutlich, dass sowohl Lohengrin als auch Ortrud über magische, übersinnliche Fähigkeiten verfügen, der eine aber als Retter in positivem Sinne, während die andere mit ihren Zaubereien sich der Hexe aus dem Märchen nähert.
Der Brautchor zu Anfang des 3. Aktes wird sozusagen exterritorial gestaltet. Die Bühne ist noch dunkel, dann ist der Chor „Treulich geführt“ von draußen zu hören, bevor er dann im Zuschauerraum aus dem 2. Rang erklingt. Gesungen wird er auch bei vielen Hochzeitsfeiern, in der Hoffnung, dass es nicht so schlecht ausgeht wie bei Lohengrin und Elsa. Und im weiteren Verlauf ist der Chor auch nicht mehr bunt, die grellen Farben sind verdeckt, weil es ja in den Krieg geht.
Die Leistung des Chores habe ich eben schon gewürdigt, der und natürlich auch Sängerinnen und Sänger wurden vom Orchester grandios begleitet, und zwar nicht nur in den Fortissimo-Passagen. Auch die leisen, lyrischen Passagen kamen wunderbar über die Rampe, einige Holzbläsersoli wirkten wie Naturlaute, und das tiefe Blech verdient ein Sonderlob. Und GMD Joseph Trafton schaffte es auch sehr gut, die Sänger hervortreten zu lassen und sie niemals zu überdecken, auch bei größeren Lautstärken.
Das Hagener Theater hatte wieder eine gute Mischung gefunden zwischen Gästen und eigenem Ensemble. Tobias Haaks sang den Lohengrin, gestaltete seine Partie mit größter Eindringlichkeit, teilte sie sich gut ein, so dass die hohen Töne bei der Gralserzählung gegen Ende noch unforciert strahlten. Großer Beifall für ihn. Wie er der dramatischen Aussage verpflichtet bewältigte Dorothea Herbert die Partie der Elsa mit vitaler und unangestrengter Stimme. Sie war die einzige im Ensemble, die diese Partie schon einmal gesungen hatte. Alle anderen Sängerinnen und Sänger hatten sie neu einstudiert. Die weiteren Rollen waren mit Hagener Hauskräften besetzt. Angela Davis sang und spielte die hexenhafte Ortrud absolut überzeugend mit farbenreicher Gestaltung, Insu Hwang zeigte als Telramund auch mit seiner Stimme, dass er Ortruds Werkzeug war. Dong-Won Seo sang den König Heinrich markant und mit satter Tiefe. Schließlich ist noch Kenneth Mattice als aufdringlicher Heerrufer mit gut durchartikuliertem, hellen Bariton zu nennen. Das gesamte Ensemble sang ohne Fehl und Tadel.
Wieder eine Glanztat des Hagener Theaters! Viereinhalb Stunden, aber zwei Pausen, und keine Sekunde zu lang!
Fritz Gerwinn, 27.02.2024
Weitere Aufführungen: 3.3., 24.3., 1.4., 7.4., 20.5.2024 (immer um 15 Uhr!)

 

 

 

Foto: Matthias Jung