Buchempfehlungen (2020)

Noltze: World Wide Wunderkammer

 

Im Mai 2020 ist Holger Noltzes neues Buch erschienen, wichtig für alle Kulturinteressierte, die dem Internet in dieser Hinsicht noch mehr oder weniger misstrauen. Er schloss das Buch am ersten Tag des lockdowns ab. Weil die Corona-Einschränkungen in vielerlei Hinsicht wie ein Brennglas wirken, wird durch die Pandemie die Aktualität auch dieses Buches noch mehr gesteigert.

 

„World Wide Wunderkammer“ ist die Fortsetzung des Buches „Die Leichtigkeitslüge“ von 2010, nach wie vor sehr lesenswert. Darin bespricht Noltze, wie Kunst, vor allem Musik, heute vermittelt wird, und schlägt vor, statt der Produktion von Häppchen die Nährwerte von Kunst und ästhetischer Erfahrung neu zu entdecken, tiefer zu graben. Wer das tut, kann dabei „spielerisch-sinnlich und höchst unterhaltsam etwas Wesentliches üben: den furchtlosen Umgang mit Komplexität.“

 

Holger Noltze, Professor in Dortmund, weiß genau, wovon er redet. Eins seiner Hautthemen ist die Musikvermittlung was er auch als Mitbegründer der Website „www.takt1“ vermittelt. Das neue Buch ist so vielschichtig und reich an Aspekten, dass vieles nur angedeutet werden kann, einiges muss ganz weggelassen werden. Trotz aller Komplexität ist es griffig formuliert.

 

Das neue Buch trägt den Untertitel „Ästhetische Erfahrung in der digitalen Revolution“. Gefragt wird, was im Internet in kulturell-ästhetischer Hinsicht passiert, und wie man dort in tiefere Schichten kommen kann. Zwei Kapitel dienen der Bestandsaufnahme, es wird analysiert und problematisiert. Im letzten Kapitel folgen Vorschläge für einen besseren Umgang mit dem Internet.

 

Im Vorwort stellt Noltze fest, dass die Digitalisierung sehr wirksam ist, aber die Gefahr der Reduktion von Komplexität birgt. Er will fragen, was das Internet mit dem „guten Inhalt“ macht, wie sich die Art der ästhetischen Erfahrung dadurch verändert. „Wir haben das Internet als Ort und Medium ästhetischer Erfahrung noch nicht verstanden ... und überlassen aus Überforderung, Bequemlichkeit und Ignoranz den clickbait-Populisten und selbsternannten Web-Gurus das Feld.“ Er will die Bedeutung der neuen technischen Möglichkeiten für die ästhetische Erfahrung erkunden, nach der qualitativen Dimension der Beschäftigung mit Kultur fragen. Angedeutet wird hier schon, was später breiter ausgeführt wird: er regt an, in der digitalen Welt eine Wunderkammer einzurichten (so eine gab es auch schon bei Petrosilius Zwackelmann), als einen begrenzten Ort, an dem man alles für sich selbst Interessante zusammenträgt, Verschiedenstes nebeneinander.

 

Welche Meinungen über das Internet im öffentlichen Raum kursieren, wird im 1. Teil, „Kritik der digitalen Dummheit“, referiert und z.T. zitiert. Beispiel: „Nicht die digitalen Medien befördern den Analphabetismus, sondern umgekehrt: Analphabetismus verhindert, digitale Medien kritisch und selektiv zu benutzen“ (Flaschlehner). Auch wird dargestellt, dass es nichts nutzt, wenn in allen Schulen tatsächlich Geräte stehen würden, „denn: erstens muss der Umgang mit dem neuen smarten Zeug erst gelernt, zweitens ein Sinn dafür entwickelt werden, wann es überhaupt nützlich ist und wann nicht.“ Noltze schildert auch seine massive Fremderfahrung von der gamescon, wo junge Männer vornehmlich ballerten, für tiefer gehende Dinge taub waren. Interessanterweise deckt sich seine Erfahrung hier mit der Meinung der Digitalexpertin Verena Pausder in der Sendung „hart aber fair“ vom 25.5.20: „digital natives“ seien in den meisten Fällen lediglich „digital consuments“. Wenn das digitale Gerät wie ein Gameboy benutzt wird, habe es keinen Wert.

Beim Surfen nach kulturorientierten Websites stößt der Autor auf eine immense Fehler-Unkultur. Viele, aber nicht alle Surfergebnisse kommen schlecht weg, zumal die von großen Firmen: zu kurz, zu knapp, wenig Tiefgang. Positiv herausgehoben wird der Auftritt des Frankfurter Städel-Museums. Es erfüllt in hervorragender Weise den Auftrag, Kunst als Medium ästhetischer Erfahrung und Erkenntnis öffentlich zu machen, auch durch die Tiefe der redaktionellen und kuratorischen Arbeit.

 

Was macht streaming mit dem „guten Inhalt“? Das wird im 2. Teil „Neulandvermessung: Transformationen“ ausführlich behandelt. Gefragt wird u.a. nach dem Wert von Musik. Der Autor kommt zu dem Ergebnis, dass die „Erlöse aus dem neuen Streaming-Geschäft … auf Kosten der Künstler“ gehen. Streaming ist zu billig, weil es der gnadenlosen Marktlogik folgt. Youtube wird als gewaltiger Lagerraum gesehen, der „überwiegend Gerümpel, aber auch wertvolle Inhalte und echte Fundstücke“ enthält, anerkennend wird aber auch geäußert, dass Youtube inzwischen als zentraler Lernort für Jugendliche funktioniert.

Die Suchwerkzeuge der streaming-Dienste hat er überprüft und kommt zu dem Ergebnis, dass sie „oft mangelhaft und … das Gegenteil von Hilfe“ sind. Musikpräferenzen werden in eher dummer Weise schubladisiert, auch von Klassik-Plattformen. So entsteht ein „Tapeteneinerlei“, Musik wird zum niederschwelliges Stimmungsstimulans.

 

„Was geht? Aussichten ins Freie“ heißt das dritte Kapitel. Neben eigenen Vorschlägen werden auch kluge Gedanken anderer Autoren integriert.

Konstatiert wird zuerst einmal, dass wir keine Aussucht auf Entnetzung haben, das Digitale hat alle Lebensbereiche durchdrungen, dabei, „nach einer kurzen Phase der Menschheitsbeglückungsutopien und -euphorien“, auch viel Schlechtes produziert. Wir sollten uns deshalb konzentrieren auf die Frage, was im Netz, schon durch seinen Umfang erstickend, geht als Vermittlungsinstanz ästhetischer Erfahrung.

Da nach Michael Bhaskar kluges Management der Auswahl ein Geschäftsmodell der Zukunft ist, rückt ein neuer Begriff ins Zentrum: Curation. Noltze bezieht sich auf den Autor Hans Ulrich Obrist, „Mastermind“ in Theorie und Praxis des Kuratierens. Der definiert da so: „Man könnte das Kuratieren als den Versuch einer Art kulturellen Befruchtung oder als eine Form der Kartographie bezeichnen, die neue Wege durch eine Stadt, eine Kultur oder eine Welt eröffnet.“ Dadurch kann man „Verbindungen schaffen, verschiedene Elemente sich berühren lassen, selbst wenn die Wirkung nicht absehbar ist.“ Im kuratorischen Handeln sind größere Zusammenhänge in den Blick zu nehmen, sie soll Expertise sein, die über Alltagserfahrungen hinausgeht.

Kuratierung bedeutet auch Auswahl von Qualität aus einer Überfülle des Mittelmäßigen, beinhaltet zudem auch kluge Kontextualisierung, muss die Verlinkungslogik des Netzes klug und intelligent nutzen. So kann es passieren, dass ein Einzelding, in einem größeren Zusammenhang verortet, plötzlich unvermutet mehr Übersicht schafft. Logisch, dass Künstliche Intelligenz hier nichts zu suchen hat.

 

Angesichts der aus kommerziellen Interessen zunehmenden Irrelevanz der Suchergebnislisten ist ein Bedürfnis nach verfeinerter Filterung vorhanden, die alles ausschließt, was nicht dazu gehört und deshalb von Überfülle entlastet. Die notwendige Entwicklung läuft auf thematische Plattformen und Portale hinaus, wer darin kuratiert, muss selbst eine Übersicht haben (keine KI!). Qualitätskriterium ist Unabhängigkeit, aufrichtige Subjektivität besiegt die falsche Objektivität der Algorhythmen. Gerade dann, wenn Kunst ihre Mittel verdichtet, ist der Kurator wichtig als Agent einer gesteigerten Komplexitätstoleranz.

Die Entdeckung der Langsamkeit kann dann auch im Digitalen stattfinden, indem man auf vielfältigen Wegen die Wahrnehmung vertiefen und den Blick fürs Detail schärfen kann. Und da neue Technik selten tiefer geht, sollte man sich davon nicht überfahren lassen. Der Blick auf den Inhalt, vor allem dann, wenn Kunst als Kunst des Andersdenkens erscheint, ist letztlich entscheidend.

In diesem Sinne ist es möglich, sich eine jeweils eigenen Wunderkammer im Internet einzurichten. Wunderkammern gab es schon im 17. und 18. Jahrhundert, hatten den Sinn, „Ordnung im Kleinen zu entwerfen, als Erklärungsmuster für das Große. … Die Wände der Kammer geben im Kleinen eine Ahnung von den größeren Zusammenhängen.“ Und als plötzliche Entdeckung: „Gelegentlich kann man aber auch durch Wände gehen.“

Wunderkammern wollen die Dinge und das Wissen der Welt ordnen und verfügbar machen. Man kann aber darin auch „schwelgen, ohne zu verstehen“, den nicht sofort zu verstehenden Phänomenen mit Offenheit begegnen.

 

Noltze ist vorsichtig optimistisch. Man sollte unverdrossen daran glauben, „dass die Erfahrung von Kunst doch mehr ist als ein schönes Extra, sondern eine wesentliche Ressource für ein rares und empfindliches Gut: Sinn nämlich.“ Gute Inhalte versprechen Tiefe, werden immer wertvoller, vor allem angesichts trostloser industrieller Unterhaltungsangebote.

 

Corona macht die Evidenz der digitalen Revolution dramatisch deutlich. Es liegt an uns, wie wir, auch im ästhetischen Bereich, damit umgehen. Wunderkammern könnten da helfen. Und viele andere Überlegungen, die in diesem Buch zu finden sind.

 

Fritz Gerwinn

 

 

Widerstand aus Loyalität

 Tobias Korenke

 Zum Verständnis einer deutschen Freiheitsbewegung

Klartext Verlag, kt., 186 Seiten

18,00 €

 

Tobias Korenke ist Historiker und Vorstand der Erinnerungs- und Begegnungsstätte Bonhoeffer-Haus in Berlin. Sein Großvater Rüdiger Schleicher und die Brüder seiner Großmutter Ursula, Dietrich und Klaus Bonhoeffer, sowie ihr Schwager Hans von Dohnanyi beteiligten sich am Widerstand und wurden in Folge des fehlgeschlagenen Attentats vom 20. Juli 1944 verhaftet, zum Tode verurteilt und hingerichtet.

 

75 Jahre nach dem gescheiterten Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 spürt Tobias Korenke in seinem Essay der Aktualität des Widerstands gegen den Nationalsozialismus nach. Er zeigt, dass vielleicht nicht alle Köpfe des 20. Juli um Claus Schenk Graf von Stauffenberg lupenreine Demokraten waren, aber alle Tugenden verkörperten, ohne die eine Demokratie nicht funktioniert: Mut, Engagement für die Gemeinschaft, Einsatz für Verfolgte, die Überzeugung, dass der Einzelne für das Ganze Verantwortung trägt und das Bewusstsein, dass es Wichtigeres gibt als das Retten der eigenen Haut. Mehr denn je lohnt es sich über den Widerstand nachzudenken.

 

 

Die Kuh, die weinte

Ajahn Brahm

Buddhistische Geschichten über den Weg zum Glück

 

Es sind die großen Themen und Gefühle, von denen die Geschichten des buddhistischen Mönchs Ajahn Brahm handeln: Liebe, Angst, Wut, Perfektion, Schuld, Mitgefühl, innere Ruhe, Glück. Kleine Perlen der Weisheit, verpackt in moderne, lebensnahe Erzählungen.

 

Die buddhistischen Lehren erzählt Brahm mit einer gehörigen Portion Humor und Einfühlungsvermögen. So augenzwinkernd und leicht die Geschichten, so sehr laden sie auch zum Innehalten und Nachdenken ein. Manche sind auch richtig traurig- wie die Titel gebende Geschichte über „Die Kuh, die weinte“.

 

Die 108 Erzählungen entlarven so manche menschliche Marotte- und kommen doch nie mit erhobenem Zeigefinger daher. Ein Buch, das auf unterhaltsame und herzerwärmende Weise einen Perspektivwechsel anregt und Wege zu einem glücklichen, erfüllten Leben aufzeigt. Ideal für kalte Herbstabende.

 

Der Autor: Ajahn Brahm ist studierter Physiker und wurde mit 32 Jahren Mönch. Bei dem Meister Ajahn Chah verbrachte er neun Jahre in einem thailändischen Waldkloster. Heute ist er Abt eines Klosters in der Nähe von Perth (Westaustralien).