Ludger Vollmers „Tschick“ in Hagen

 

Erfolgreiche Uraufführung

Road Opera von Ludger Vollmer

Libretto von Tiina Hartmann nach dem gleichnamigen Roman von Wolfgang Herrndorf

Auftragswerk des theaterhagen

Gefördert vom Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen. Gefördert im Rahmen von Fonds Neues Musiktheater 2016.

Musikalische Leitung Florian Ludwig

Inszenierung Roman Hovenbitzer

Dramaturgie Ina Wragge

 

 Große Oper in Hagen, und das ganz neu. Am 18. März öffnete sich der Vorhang zu Ludger Vollmers brandneuer Road Opera „Tschick“. Der Vorschlag, gerade diese Geschichte zu vertonen, kam noch von der im letzten Jahr verstorbenen Hagener Dramaturgin Dorothee Hannappel, der das Werk auch gewidmet ist. Der Komponist will vor allem die Jugend ansprechen, und so sah man auch schon bei der Premiere mehr junge Leute als sonst. Der Roman „Tschick“ von Wolfgang Herrndorf ist inzwischen Schullektüre, es gibt davon eine Bearbeitung fürs Sprechtheater und eine Verfilmung. Ludger Vollmer und seine Librettistin Tina Hartmann gehen aber einen ganz eigenen Weg. Den zu verfolgen, war spannend. Die Oper war publikumswirksam inszeniert, ist oft lustig, schürft aber immer wieder auch tiefer. Das Premierenpublikum zeigte sich begeistert.

Tina Hartmann hatte aus dem Roman 29 Szenen herausdestilliert, aber den Gesamtablauf nicht verändert. Das ergab gut zwei Stunden Musik. Die Geschichte wird auf diese Weise sehr klar wiedergegeben, ist nachvollziehbar auch für Leute, die den Roman mit seiner verschlungenen Handlung nicht kennen. Die Hauptpersonen, Maik, ein wohlstandverwahrloster Junge und Tschick, ein Russlanddeutscher, lernen sich kennen, freunden sich an und beschließen, mit einem geklauten Lada in die Walachei, Tschicks Heimat zu fahren. Weil ihre geographischen Kenntnisse im Minusbereich liegen, erreichen sie dieses Ziel nicht, erleben aber ungeheure Abenteuer und lernen die unterschiedlichsten Menschen kennen. Obwohl am Schluss ein Unfall passiert, ist das für Maik aber „der schönste Sommer meines Lebens“. Die auch in Herrndorfs Roman benutzte harte und direkte Jugendsprache wird auch in die Oper übernommen, den weitaus obszönsten Verbalpart hat aber zweifellos Maiks Kapitalistenvater. Aber über Herrndorfs Text hinaus tauchen auch zwei neue Elemente auf. Einmal ein Gedicht von Christian Morgenstern: „Die zwei Parallelen“, die sich trotz mathematischer Gesetze am Ende doch treffen. Sie passen haarscharf auf die Beziehung zwischen Maik und Tschick und kommen immer wieder in unterschiedlichen musikalischen Variationen vor. Dann eine Szene aus Wilhelm Buschs Max und Moritz, von der auf der Müllkippe lebenden Isa als Auftrittsarie gesungen, umgedeutet und erklärend, warum sie missbrauchsbedingt an diesem schrecklichen Ort lebt.

 

Die Musik ist, da kann man dem Komponisten nur folgen, tatsächlich „große Oper“. Volles Orchester, Chor, Extrachor, Solisten und sogar Hiphoptänzer haben gut zu tun. Die Musik versucht gar nicht erst, avantgardistisch zu sein, ist aber neuartig in dem Sinne, dass sie sich aller möglichen Stile und Techniken bedient, um den emotionalen Gehalt der jeweiligen Szene genau herauszuarbeiten. Zum einen hört man alte Bekannte aus der Musikgeschichte, die aber nie ganz wörtlich zitiert, sondern melodisch oder harmonisch abgebogen werden (einmal war, als Tschick von Russland schwärmt, „Midnight in Moscow“ zu erkennen). Andererseits gibt es dramatisch-dissonante Musik an zentralen Stellen, vom vollen Orchester gespielt. Der Bezug zur Tradition ist aber immer vorhanden, so etwas wie Rezitative und Arien wird benutzt, rhythmisch Bewegtes erinnert an Bartok, aber auch Rockmusik kommt immer wieder vor, ebenso Micky-Mousing, also das Verdoppeln einer Bewegung in der Musik. Dies alles aber keineswegs beliebig, sondern präzise und oft wechselnd und changierend auf den jeweiligen Ausdrucksgehalt bezogen. Deshalb war die Musik auch für Laien relativ leicht zu verfolgen, wer sich besser auskannte, hatte seinen Spaß daran zu erkennen, welche Stile gerade verarbeitet wurden. Vieles erinnerte mich in der kompositorischen Vorgehensweise auch an Offenbach und Eisler: Es gab ironische und pointiert satirische Passagen, oft verstärkte die Musik den komischen Effekt lustiger oder skurriler Szenen auf der Bühne. Dass des öfteren laut gelacht wurde, lag also keineswegs nur am Text. Der wurde nur manchmal gesprochen, sonst aber in den unterschiedlichsten Facetten gesungen, manchmal songartig, manchmal wurden die Worte zerhackt, manchmal schlug es gezielt ins Süßliche um, der Gegensatz zwischen satirischen und ernsten Stellen wurde aber insgesamt brillant über die Rampe gebracht.

 

Gut war es, dass alle gesungenen Texte noch einmal als Übertitel erschienen, das erleichterte das Verstehen der Handlung ungemein. Ein zweites Schild hatte aber schon dramaturgische Funktion. Hier wurden die Überschriften der einzelnen Szenen und entscheidende Worte eingeblendet. Auch für die szenische Umsetzung hatte sich Regisseur Roman Hovenbitzer einiges einfallen lassen. Sehr schön seine Idee, den Chor, der die Bedrohungen der Umwelt darstellte, mit Masken auftreten zu lassen. So konnten sie u.a. die sportliche Rentnergruppe, die grunzenden Schweine nach dem Unfall und die sensationsgeile Menge beim Prozess darstellen. Auch die von der Musik vorgegebenen Dreifaltigkeiten der alternativen Mutter Friedemann und der Krankenschwester wurden publikumswirksam auf die Bühne gebracht, und nachhaltig war auch die Szene mit dem stahlbehelmten Horst Fricke, der alles durcheinanderbringt. Bühnenbildner Jan Bammes setzte präzise Akzente mit schnell wechselnden Requisiten. Einen ganz gewichtigen Anteil hatten aber die Projektionen von Krista Burger. Sie fand für die vielen Fahrten der beiden eine einfache, aber geniale Lösung: Der geklaute Lada kann an einer Stelle stehen bleiben, und die durchfahrenen Landschaften und Siedlungen ziehen - dargestellt durch ein Video – an ihm vorbei und simulieren ein fahrendes Auto. Nur ein Pfeil zeigt die Richtung an, in die das Auto fährt. Und gegen Ende, wenn Maik und seine Mutter die überflüssigen Möbel in den Swimmingpool werden, sehen die Zuschauer das Innere des Swimmingpools auf der Leinwand und können genau beobachten, wie die neobarocken Stühle langsam auf seinen Boden sinken.

Das Orchester unter Florian Ludwig hatte hörbaren Spaß an der Produktion und spielte sehr motiviert, auch Chor und Extrachor waren in jeder Hinsicht voll engagiert dabei. Und die Solisten agierten auf gewohnt hohem Niveau: Andrew Finden als Maik und Karl Huml als Tschick spielten, sprachen, sangen überzeugend die Hauptrollen, Kristine Larissa Funkhauser glänzte als Isa. Marilyn Bennett als alkoholkranke Mutter und Rainer Zaun als ordinärer Kapitalist boten exzellente Charakterstudien, Richard van Gemert beeindruckte in seiner Rolle als Karl Fricke und Heikki Kilpeläinen in mehreren Rollen mit seinem voluminösen Bariton. Auch die zahlreichen anderen Solisten, von Ensemble- und Chormitgliedern besetzt, zeigten hervorragende Leistungen. Einige kamen auch aus der Solistenklasse des Kinder- und Jugendchores des theaterhagen, die sich im Programmheft begeistert über die Oper Vollmers äußerten und dies auch in Gesang und Darstellung auf der Bühne bestätigten.

 Eine sehr gelungene Produktion also, vor allem für eine junge Generation komponiert. Diese Oper hat es verdient, auch an vielen anderen Häusern gespielt zu werden. Auch weil am Schluss deutlich wird, dass das Leben immer risikoreich ist und es letztlich darauf ankommt, glücklich zu werden. Ein schöner Einfall dazu das Schlussbild: Isa und die beiden Jungen sitzen in großer Höhe auf Schaukeln und lächeln ins Publikum.

 

Fritz Gerwinn, 20.3.2017

 

Weitere Aufführungen: 13.4., 20.4.,26.4., 10.5., 2.6., 11.6., 7.7.2017