Hagen
Faust
Premiere am 17.1.2015
Musikalische Leitung Steffen Müller-Gabriel
Inszenierung Holger Potocki
Bühnenbild und Kostüme Lena Brexendorff
Video Volker Köster
Chor Wolfgang Müller-Salow
Als erste Premiere im Jahr 2015 führte das theaterhagen den „Faust“ von Charles Gounod auf. Dessen musikalische Umsetzung verzichtet auf Goetheschen Tiefsinn und stellt die Liebesgeschichte von Faust und Gretchen, die in dieser Oper Marguerite heißt, und ihr Scheitern in den Mittelpunkt. Sensible musikalische Umsetzung verbindet sich hier mit einem sinnfälligen und einleuchtenden Regiekonzept, das die scheinbar alte Geschichte konsequent in die Gegenwart holt. Die Geschichte von Faust und Marguerite verwandelt sich immer mehr in den Alptraum eines alten Mannes in seinen letzten Stunden.
Die Oper beginnt im Zimmer eines Krankenhauses, in dem Faust, kaum noch lebensfähig und gespickt mit Medizinapparaten in seinem Bett liegt. Die Personen, die ihn dort in seinen letzten Tagen umgeben haben - Krankenschwestern, Arzt, Priester, ein Clown, der die Kranken aufheitern soll - , verwandeln sich entsprechend in die handelnden Personen des Stücks, - und am Schluss, nach Fausts Tod, wieder zurück. Von Anfang an auffallend ist die wichtige Rolle von Videoprojektionen, die Faust in unterschiedlichen Zuständen zeigen, am Anfang mit Sonde dem Tode nah, später munterer, am Schluss schließt er endgültig die Augen. Diese sind, vor allem in Vor- und Zwischenspielen, sinnfällig und punktgenau mit der Musik synchronisiert, so z.B. erschrecktes Augenöffnen mit einem plötzlichen Orchester-Tutti.
Die Verwandlung geschieht mit einem plötzlichen Lichtwechsel, bei dem alle Personen erstarren, sogar der linke Fuß des Arztes bleibt in der Bewegung stehen. Nur der Priester agiert weiter, wirft seinen Mantel ab, steht in grellrotem Anzug da: Mephistopheles verspricht Faust ewige Jugend. Dieser, der bis dahin von der Seite gesungen hat, erscheint dann auch als zweiter, diesmal junger Faust, auf der Bühne.
Mephistopheles gelingt es aber nicht, Faust ganz zu verjüngen, sein Alter und alle Gedanken an den Tod komplett auszublenden: der junge Faust trägt ein Jackett, das hinten in der Mitte geteilt ist wie ein Operationshemd, und der alte Faust (Klaus Klinkmann als stumme Person) erscheint am Ende fast jeden Aktes im Rollstuhl, spielt sogar im Duell mit Valentin, Marguerites Bruder, (der war am Anfang der Arzt) eine entscheidende Rolle; auch in der Walpurgisnacht sitzt er da, den Sarg mit Marguerites ermordetem Kind auf den Knien. Auch bleiben verschiedene Gegenstände des Krankenzimmers im weiteren Verlauf wichtig. So wird das Kreuz, wenn Mephistopheles herrscht, einfach auf den Kopf gestellt, und auch das Krankenbett bleibt immer gegenwärtig: auf mehrere Meter verlängert, wenn in der Kirmesszene die jungen Mädchen mit den Soldaten kokettieren, bei der Rückkehr der Soldaten als Leichenwagen für den umgekommenen Wagner (am Anfang der Clown), in der Kerkerszene am Schluss, senkrecht gestellt, als Zuflucht für Marguerite. Am deutlichsten wird dies in der Liebesszene Faust-Marguerite, in der das Krankenbett wie ein Fremdkörper in ihrer idyllischen Stube steht. Diese ist dem Hirschbild, das auch schon im Krankenzimmer hängt, ausschnittweise nachgebildet und ironisiert mit dem dahinter erscheinenden ebenso kitschverdächtigen Sternenhimmel offensichtlich bürgerliche Biederkeit. In der darauf folgenden Szene - Marguerite schwanger und verlassen - bleibt nur noch dieses Bett übrig, sogar der zu Beginn der Szene noch vorhandene Rahmen des Kitschbildes wird ganz schnell hochgezogen. Schließlich spendiert Mephistopheles in der Kirmesszene den Wein nicht, wie er singt, in einem Fass, sondern in roten(!) Infusionsbeuteln.
Weitere Mittel der sinnfälligen, weil konsequenten Regie: Beim Soldatenmarsch gelingt ihr ein einleuchtender dramaturgischer Kontrapunkt. Die ausufernde und kaum in den Zusammenhang passende Fröhlichkeit der Musik wird konterkariert, indem dazu der Sarg des Studenten uns späteren Soldaten Wagner hereingetragen wird und sich ein Trauerzug formiert. Und die Kirchenszene bildet deshalb einen Höhepunkt, weil hier Himmel und Hölle sich nicht bekämpfen, sondern zusammenarbeiten. Dämonischer und liturgischer Chor pushen sich gegenseitig hoch, unter Anleitung von Mephistopheles im Priestergewand, um Marguerite vollkommen zu vernichten. Fromme Mönche zeigen ihr wahres Gesicht, sogar die Marienstatue betont Marguerites Schuld mit bohrend leuchtenden roten Augen. Die Walpurgisnacht ist dagegen gekürzt und sehr karg gehalten, kein Hexeneinmaleins, keine Sexorgie, außer Mephistopheles im Glitzeranzug befindet sich nur noch lebendiges und schon totes Personal auf der Bühne. Faust wird an Marguerite erinnert, als die Marienstatue ihren weißen Umhang abwirft, von ihrem Podest steigt und Faust in weißer Reizwäsche sexuell bedrängt.
Die Inszenierung ist auch deshalb gelungen, weil die drei entscheidenden Personen (Regie Holger Potocki, Videoeinblendungen Volker Köster, Kostüme und Bühnenbild Lena Brexendorff) offensichtlich hervorragend zusammengearbeitet haben.
Nicht nur die Kostüme, auch die geschickt wechselnden Bühnenbilder in unterschiedlichen Formaten passen genau zur jeweils erzählten Episode, einige Szenen vor dem Vorhang lassen lautlosen Umbau dahinter zu. Auch die Videoeinblendungen (neben dem Gesicht des alten Faust z.B. Börsenstreifen beim Lied vom goldenen Kalb, Hände mit Infusionsnadel, Wolken, Dampf (aus der Hölle?)) ergänzten die Geschichte vortrefflich und konnten sie an Gelenkstellen sogar weiterführen.
Chor (Wolfgang Müller-Salow) und Orchester (Steffen Müller-Gabriel) zeigten sich in Bestform, der Chor schaffte es beim Walzer sogar, trotz schneller Bewegungen noch taktgenau zu singen. Nach meiner Erfahrung scheinen Orchester französische Opern der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (neben Gounod vor allem Massenet) besonders gern zu spielen und blühen dabei regelrecht auf. Das konnte man auch an diesem Abend merken. Auch auf die Lautstärken wurde offenbar großer Wert gelegt. So erklingt das Liebesduett Faust-Marguerite vor der Pause exzessiv und schwelgerisch, dagegen wird das Duett Marguerite-Siebel (ihr treuer Freund und Verehrer) nach der Pause dem Handlungsverlauf entsprechend dynamisch sehr zurückgenommen.
Die Sänger bieten ebenfalls Bestleistungen und fügten sich nahtlos in das Regiekonzept ein. Paul O´Neill als Faust teilte sich seine anstrengende Rolle sehr gut ein, stellt seine Spitzentöne, auch die leisen, sehr schön heraus. Veronika Haller hatte ihre besten Momente in lyrischen Passagen, so z.B. in Schmuck-Lied, einige der vielen sehr hohen Töne hätten manchmal weniger scharf sein können. Beeindruckender Gesang auch bei Kristine Larissa Funkhauser (Siebel), Kenneth Mattice (Valentin), Paul Jadach (Wagner) und Marilyn Bennett (Marthe Schwerdtlein). Besonders gut gefallen hat mir der Bayreuth-erprobte Rainer Zaun als Mephistopheles, der sowohl sängerisch als auch darstellerisch aus dem Vollen schöpfen konnte. Sehr zu loben ist auch die Wortverständlichkeit bei allen: Wer französisch versteht, kann ganze Passagen lang auf die deutschen Übertitel verzichten.
Zu fragen ist nur: Warum blieben in der Premiere so viele Sitze leer? Diese Aufführung ist nämlich nicht nur für Hagener zu empfehlen, es lohnt sich auch, aus weiterer Entfernung diese Inszenierung zu besuchen. Immerhin waren aber doch genug Besucher da, die ihr eingespieltes Ensemble minutenlang und mit standing ovations feierten.
Fritz Gerwinn, 20.1.2015