Foto: Björn Hickmann
Foto: Björn Hickmann

Hagen

Stimmig, spritzig, intelligent

Offenbachs „Die schöne Helena“ in Hagen

Premiere am 29.10.2022


Kaum hat das Vorspiel begonnen, bricht es auch schon mit einer krachenden Dissonanz ab. Der Vorhang öffnet sich, und Eris, die Göttin des Streites und der Zwietracht, betritt die Bühne. Die kommt in dieser Operette eigentlich nicht vor, spielt in der Hagener Fassung aber eine wichtige Rolle. Schließlich hatte sie ja auch das Urteil des Paris letztlich verursacht – das ist die bekannte Geschichte, in der Paris die schönste der drei Göttinnen Minerva, Hera und Venus auswählen muss und sich für letztere entscheidet. Die hat ihm die schönste Frau der Welt versprochen. Das ist Heleno, leider schon mit Menelaos verheiratet. Eris lenkt auch weiterhin das Geschehen, das ja schließlich zum Krieg um Troja führt, beobachtet, spielt den Diener, lässt aber niemals locker, wenn es um die Erzeugung von heftigem Streit geht. Die Einführung dieser Person ist ein echter Theatercoup, hat einen großen Anteil am Erfolg dieser Produktion. Dargestellt wird sie von der Sängerin und Schauspielerin Sandra Maria Germann, die ihre Sache hervorragend macht. Ausgestattet ist sie mit zwei Stimmen, einmal ihrer normalen, zum zweiten mit einer anderen durch Mikrofon und Verzerrer verstärkten, mit der sie ihre wahren Absichten kundtut.
Diese zusätzliche Figur mit erheblicher Wirkung hatte sich Regisseur Johannes Pölzgutter ausgedacht, der auch den gesamten Text überprüft und z.T. neu gestaltet hatte. Dadurch führte er diese „Mythen-Travestie“, die ins Parodistische gewendete Geschichte der Entführung Helenas durch den trojanischen Prinzen Paris zu einem großen Erfolg. Schon nach dem ersten Teil wollte das Publikum mit dem Beifall gar nicht mehr aufhören. Das lag auch daran, dass der Regisseur die Handlung sehr nachvollziehbar erklärt und ihre unerwarteten Schlenker plausibel umgesetzt hatte.
Ein Beispiel: Im 2. Akt ruft Menelaos, der seine Ehefrau Helena mit Paris auf frischer Tat ertappt hat, seine königlichen Genossen Agamemnon, Achilles, Ajax I und Ajax II zu Hilfe. Die, als grenzdebile Machtmenschen dargestellt, bringen als Teil einer volltrunkenen Partygesellschaft erst nur sinnlose Silben zustande, geben dann aber dem betrogenen Menelaos auf Anregung Helenas überraschenderweise selbst die Schuld, weil er zu früh gekommen sei und seine Frau nicht darüber informiert habe. Die Partygesellschaft wendet sich hier also gegen die gesellschaftliche Konvention, dass seit Evas Zeiten in solchen Situationen immer die Frau die verantwortliche Sünderin ist. Erst im letzten Moment kommt sie doch wieder in die „richtige“ moralische Spur, indem sie Paris verjagt.
Und im 3. Akt macht Pölzgutter deutlich, dass Venus kräftig ins Geschehen eingegriffen hat. Sie möchte, dass Menelaos seine Frau für Paris freigibt, und lässt solange Männer und vor allem Frauen ihre Eheversprechen vergessen. Um die Moral zu retten, stimmen sogar die Könige ihr zu und bitten Menelaos, auf Helena zu verzichten, ehe die Geschichte dann doch ganz anders zu Ende geht.
Zudem lässt er die „öffentliche Meinung“, die in Offenbachs „Orpheus in der Unterwelt“ als leibhaftige Person auftritt, eine wichtige Rolle spielen. In einer äußerst prüden Gesellschaft tragen die sehr angepassten Damen alle Kostümchen (ziehen im „befreiten“ 3. Akt aber wenigstens das Jäckchen aus), sind aber äußerst neugierig und begierig auf mögliche Fehltritte ihrer Königin. Hier wie auch an anderen Stellen zeigt sich die gute Zusammenarbeit von Regisseur und Kostümbildnerin Susana Mendoza. Helenas Zögern ist also auch der gesellschaftlichen Reputation geschuldet, obwohl sie ihres Ehemanns überdrüssig ist und mit Paris gerne sofort etwas anfangen würde.
Dazu kommen immer wieder kleine, liebevoll inszenierte und intelligente Gags, die beim Publikum hervorragend ankommen. So sieht man z.B. die Venusstatue erst unversehens von hinten, und König Menelaos wird nicht in einer Luxusyacht gefahren, sondern muss im Schlauchboot selber paddeln. Am Schluss fehlt auch nicht der Hinweis auf den trojanischen Krieg, der durch diese Geschichte ja verursacht wurde. Menelaos selbst zieht das am Ende kriegsentscheidende Tier im Miniformat auf die Bühne, wenn der Vorhang fällt.
Auch das Bühnenbild (Theresa Steiner) harmoniert mit dieser Darstellung. Benutzt wird Botticellis Venus-Gemälde, im ersten Akt aber nur einmal als Statue. Nach der Pause kann man Venus im Bühnenbild mit aufsteigenden Ebenen mehrfach sehen. Ihre Macht scheint also zuzunehmen, wird aber auch sofort wieder gebrochen, weil sie teilweise auf dem Kopf steht.
All diese tollen Ideen wurden von allen Mitwirkenden des Hagener Theaters mit vollem Engagement umgesetzt. Das ist dort so üblich, nicht umsonst wurde gerade dieses Theater in der Umfrage der „Opernwelt“ mehrfach als „Theater des Jahres“ genannt. Auch Krankheitsfälle konnten in der Premiere  Qualität nicht aufhalten. Wie Intendant Hüsers vor der Vorstellung mitteilte, war mehr als die Hälfte des Chores krank oder in Corona-Quarantäne. Die 11 (von 24) Mitglieder machten ihre Sache aber hervorragend. Wie gut muss der Chor klingen, wenn alle wieder dabei sind! Auch das Orchester unter Taepyeong Kwak traf den schmissigen Offenbachton brillant, ließ aber auch die lyrischen Passagen wunderbar über die Rampe kommen und überdeckte nie die Solisten.
Bei den Sängern hatte man eine glückliche Mischung aus Gästen, Ensemblemitgliedern und Darsteller.innen von kleineren Partien aus dem Chor gefunden. Die Hauptrolle der Helena wurde von Angela Davis gesungen, die vom Hagener Publikum offensichtlich besonders geliebt wird. Sie harmonierte hervorragend mit ihrem Partner Anton Kuzenok als Paris. Beide waren nicht nur mit ihren Tönen, sondern auch darstellerisch eine Wucht (nicht nur bei der jugendfreien Darstellung des Übergangs vom geträumten zum tatsächlichen Sex). Richard van Gemert bot als betrogener Menelaos als einer der debilen und gewalttätigen Griechenfürsten eine Glanzleistung. Der Sohn des Oberkönigs Agamemnon (Kenneth Mattice), der junge Orest (Clara Fréjacques), zieht auf Papas Kosten, also des Staates, in dieser prüden Gesellschaft mit Huren herum, an denen der mehrfach korrupte Oberpriester (Igor Storozhenko) auch seine Freude hat. Dazu noch die oben schon genannte Sandra Maria Germann als Eris. Und auch alle Darstellerinnen und Sänger der kleineren Rollen schlugen voll ein.
Am Ende minutenlanger, rasender Beifall mit standing ovations für diese gelungen Produktion. Diese stimmige, spritzige, intelligente Inszenierung sollte man auf keinen Fall verpassen. Ich jedenfalls wünsche allen weiteren Vorstellungen dieses Stücks ein volles Haus!
Fritz Gerwinn, 1.11.2022
Weitere Vorstellungen (unterschiedliche Anfangszeiten!):
13.11., 27.11., 7.12., 23.12., 31.12. (2x). 2022
7.1., 15.1., 18.1., 25.2., 22.4. 2023