Foto: Klaus Lefebvre
Hagen
Rossinis „IL Turco in Italia“ im theaterhagen
Premiere am 2.2.2019
besuchte Vorstellung am 8.Februar 2019
Schon zur Pause klatschte das Publikum begeistert, am Ende noch mehr, zwischendurch auch immer wieder, belohnte damit aber keineswegs nur die vokalen, sondern auch die artistischen Leistungen der Solisten, auch die oft brillanten Einfälle der Regie. Nicht umsonst gilt Christian von Goetz als Rossini-Spezialist, und dies bestätigte er durch seine Arbeit mit dem hervorragend aufgelegten Hagener Ensemble. Anregen ließ er sich von Elementen des Stummfilms und der Commedia dell´arte, ein italienisches Improvisationsvolkstheater mit immer gleicher Handlung und gleichen Typen, aber immer anders gespielten Details. Wichtig war ihm auch der moderne Ansatz des Stücks: ein Dichter erfindet sein Stück bei laufender Handlung und greift immer wieder ein, wenn ihm etwas nicht gefällt. Diese Doppelbödigkeit findet sich erst mehr als hundert Jahre nach der Premiere des „Turco“ (1814) bei Pirandellos Stück „Sechs Personen suchen einen Autor“ (1921) wieder.
Zwei Stummfilme wurden an wichtigen Stellen abgespielt, der erste gleich parallel zur Ouverture. Der Dichter, Prosdocimo, stellt einem Produzenten per Film den Entwurf eines neuen Stückes vor. Das fällt aber komplett durch, weil es zu ernst ist, fast alle Personen am Schluss per Axt hingemetzelt werden und das Blut zu sehr spritzt. Deshalb muss ein anderes Stück her. Der zweite Film, kurz vor Schluss, bringt die sich immer turbulenter gewordene und kaum noch zu durchschauende Handlung schnell und überraschend wieder in Ordnung, so dass alle vordergründig glücklich sind. Auch der Produzent, der Prosdocimos Stück jetzt annimmt. Dass typische Handlungselemente des Stummfilms in der ganzen Inszenierung eine wichtige Rolle spielen, merkt man am beständigen Flimmern des Filmmaterials im Hintergrund.
Die Handlung ist bis zur Pause noch durchaus nachvollziehbar, wird danach aber immer weniger durchschaubar und chaotisch, weil auch die Hauptpersonen sich immer wieder in Liebesdingen umentscheiden. Das ist aber überhaupt nicht schlimm, weil dies der Rasanz und Überdrehtheit der Musik Rossinis entspricht und am Schluss auch zufriedenstellend aufgelöst wird. Man kann nur andeuten: Selim, ein türkischer Fürst, will Italien und die italienischen Frauen kennenlernen und trifft auf Fiorilla, beide verlieben sich auf der Stelle ineinander. Fiorilla hat aber schon einen Ehemann, Geronio, und auch einen Liebhaber, Narciso, die über die neue Liaison der temperamentvollen Frau nicht glücklich sind. Selim hat aber auch eine alte Liebe entdeckt, Zaida, die mit einer Zigeunertruppe wahrsagend durch die Gegend zieht, und fühlt sich wieder heftig zu ihr hingezogen. Diese Konstellation ergibt jede Menge Stoff für Irritationen, Konflikte und Verwicklungen, und all dies wird noch vom Dichter Prosdocimo gesteuert und beeinflusst. Die Personen finden sich entsprechend in „Zweierkisten“ mit jeweils unterschiedlichen Personen wieder, und die stehen auch tatsächlich auf der Bühne.
Das Personal lässt keine Wünsche offen: Der Dichter Prosdocimo wird vom schon in vielen Inszenierungen bewährten Kenneth Mattice überzeugend dargestellt Dong-Won Seo als Selim glänzt mit voluminösem Bass und großer Spielfreude, erster Auftritt auf einem Boot in drei Meter Höhe. Zaida, die abgelegte und dann wieder aufgenommene Geliebte Selims, bringt die tragischen und komödiantischen Elemente ihres Parts grandios über die Rampe. Narciso, Fiorillas Liebhaber, ist eigentlich eine überflüssige Figur, steigert aber die Verwirrung und muss auf die Bühne, weil er zwei schöne Arien zu singen hat, eine sogar oben auf einer Leiter. Leonardo Ferrando macht das mit farbenreichem Tenor.
Zwei Personen sind in interessanter Weise akzentuiert. Einmal Geronio, der Ehemann Fiorellas, in Opernführern gern als lächerlicher älterer Herr charakterisiert. Das ist er in dieser Inszenierung gar nicht, er betritt die Bühne nicht zu Fuß, sondern kommt wie Tarzan am Seil hereingeflogen und scheut auch heftigere körperliche Auseinandersetzungen nicht. Der Hagener Publikumsliebling Rainer Zaun singt, spielt, turnt hervorragend und macht seinen Part zur dritten Hauptrolle. Und Fiorilla, von Marie-Pierre Roy wunderbar gesungen und gespielt, ist eine für die Entstehungszeit höchst selbstständige und ungewöhnliche Frau, eine Art weiblicher Don Giovanni. Sie hat nicht nur Mann und Hausfreund, sondern wünscht sich, im Duett mit Ehemann Geronio, 1000 Liebhaber, was ihr dieser sogar zugestehen muss.
Dass Regisseur Christian von Goetz Elemente des Stummfilms anwendet, zeigt sich auch im Bühnenbild (Lukas Noll), das aus einem großen Kameraauge besteht, in dessen Rundungen heftig agiert wird. Das erfordert großen körperlichen Einsatz bis hin zur Artistik. Stummfilm-Ästhetik wird verbunden mit typischen Merkmalen der Commedia dell´arte, clownesken Kostümen und übertrieben geschminkten Gesichtern. Auch geht es immer wieder ziemlich derb zur Sache: Frauen und Männer kämpfen mit Besen gegeneinander (gut geprobt und sehr publikumswirksam), Geronio, der immer eine Axt im Jackett hat, wird mit einem kräftigen Fausthieb niedergestreckt. Auch Slapstick-Elemente und Absurditäten kommen nicht zu kurz, gehen manchmal bis ins Anarchisch-Chaotische. Immer wieder knallt jemand gegen eine Wand, das ist ein durchgängiger running gag. Fiorilla erscheint einmal als Kleopatra auf Rollschuhen. Und die Zigeunertruppe, die Zaida begleitet, besteht aus Brautjungfern in weißen Kleidern mit Blumenkränzen im Haar. Weil auch die männlichen Chormitglieder so gekleidet sind, kommt es zu sehr lustigen und überraschenden Wirkungen.
Überhaupt ist die Inszenierung sehr temporeich und setzt die Rasanz der Musik Rossinis hervorragend um. Auch die sich steigernden „Crescendo-Walzen“ Rossinis finden auf der Bühne ihre komplette Entsprechung. Das erfordert eine große Agilität aller Beteiligten, eine ungemein starke Körperlichkeit. Diese scheint sich am Anfang des zweiten Teils zu verselbständigen, wenn die Regie ein allgemeines Sackhüpfen aller Beteiligten veranstaltet, das aber den Rhythmus der Musik kompetent aufnimmt und in einem angedeuteten Koitus der milderen Art von Selim und Fiorilla in einem einzigen Sack gipfelt. Das ist nicht sofort verständlich, aber sehr lustig.
All diese tollen Regieeinfälle wären wirkungslos, wenn sie ihr Pendant nicht in der musikalischen Umsetzung finden würden. Dies gelang dem Hagener Orchester unter Steffen Müller-Gabriel hervorragend. Es befeuerte die zunehmende Konfusion der Beziehungen auf der Bühne mit intensivem und präzisem Spiel und erhöhte damit das Vergnügen des Publikums. Verbindungen von Bühnengeschehen und Musik wurden aber auch an anderen Stellen deutlich. So erschien einmal ein Bläserquintett auf der Bühne und griff so direkt in die Handlung ein. Die vielfältigen Koloraturen der Sänger zeigten nicht nur, wie virtuos diese ihre Stimmen beherrschten, sondern waren sorgfältig durchchoreographiert und mit der jeweiligen Handlung verbunden. Einige Male wurde ihr Ausdruck durch szenische Aktionen verstärkt. An der musikalischen und szenischen Umsetzung hatte auch der Chor (Wolfgang Müller-Salow) einen wichtigen Anteil.
Insgesamt ein wunderbarer Abend. Die Charakteristik der Rossinischen Musik wurde sehr genau erfasst und wurde bis in die kleinsten Details hinein ausgearbeitet. Die Zusammenarbeit von szenischer und musikalischer Umsetzung war mustergültig. Dass in der von mir besuchten Aufführung einige Plätze frei blieben, ist nicht zu verstehen. Unbedingt hingehen!
Fritz Gerwinn, 10.2.2019
Weitere Aufführungen:
15.2., 7.3., 14.3., 20.3., 31.3., 24.4., 19.5., 1.6., 7.6., 19.6., 30.6.2019