Foto: Jörg Landsberg
Foto: Jörg Landsberg

Don Giovanni im Zwischenreich
Mozarts „Don Giovanni“ im Hagener Theater
Premiere am 6.5.2023
Schon kurz nach den ersten wuchtigen Akkorden der Ouverture öffnet sich der Vorhang. In der Mitte ragt ein großer kahler Baum in den Himmel, daneben ein demoliertes Auto, nach einem Unfall dort gelandet, alles in einer hügeligen Landschaft mit Wiese und Straße. Dort irren zwei Männer herum, wie sich später herausstellt, Don Giovanni und Leporello, verschwinden dann aber wieder.
Für eine Mozart-Oper schon ein seltsames Bühnenbild. Ohne die Einführung vorher oder die Erläuterungen im Programmheft ist man ziemlich verloren. Doch nach der Information ist sehr gut zu erkennen, was sich das Regieteam (Angela Denoke, Inszenierung, Timo Dentler, Okarina Peter, Bühne und Kostüme) hat einfallen lassen, um der Geschichte und den Personen auf die Spur zu kommen und ihre Charaktere auszuleuchten. Don Giovanni, die Hauptperson, befindet sich schon am Anfang am Ende, in einer Art von Nahtoderfahrung, bei der Ereignisse des Lebens noch einmal episodenhaft an ihm vorbeiziehen oder sogar noch einmal durchlebt werden, sehr subjektiv, nicht ganz genau und auf die wichtigsten Personen konzentriert. In diesem Zwischenreich spielen aber auch die anderen Personen, unabhängig von ihm, eine wichtige Rolle. Das Bühnenbild ändert sich nicht, alle Szenen spielen sich in dieser seltsamen Landschaft mit dem demolierten Auto ab, und im Hintergrund wallt beständiger Nebel. Der Wechsel der Episoden wird bestenfalls durch eine Drehung der Bühne angezeigt. Vieles lässt sich gut nachvollziehen, einiges bleibt allerdings rätselhaft.
Was von Anfang an fasziniert, ist die Musik aus dem Orchestergraben. Joseph Trafton macht mit dem Hagener Orchester deutlich, dass Mozart die Figuren musikalisch in allerbester und differenziertester Weise charakterisiert hat. Davon ausgehend bereicherte er auch die rezitativische Begleitung am Hammerklavier mit genau passenden Improvisationen. Das, was das Orchester spielt, wird hier auf der Bühne konsequent umgesetzt und weitergeführt. Die emotionale und dynamische Bandbreite des Orchesters ist beträchtlich, alle Facetten von zartester Lyrik bis zu brutalster Gewalt werden punktgenau eingesetzt. Besonders gut nachzuvollziehen war das für mich bei den Arien der Donna Anna in ihrem beständigen Schwanken zwischen Rache und Angerührtsein. Aber auch die beiden Arien des Don Ottavio waren so schön gespielt, dass man ihm schon deshalb seine mangelnde Aktivität abnahm. Dagegen klangen die Fortissimo-Akkorde in Don Giovannis Festarie, fälschlicherweise immer mal wieder mit Champagner in Verbindung gebracht, wie Peitschenhiebe. Eine hervorragende Orchesterleistung, die die acht Solistinnen und Solisten beflügelte. Das zeigte der mehrfache Zwischenbeifall.
Die Hagener Oper hatte eine gute Mischung gefunden zwischen eigenen Kräften und Gästen. Aus dem Ensemble ragte Insu Hwang als Don Giovanni hervor, Dong-Won Seo sang seinen Gegenspieler, den Komtur. Anton Kuzenok als Don Ottavio konnte seine lyrischen Qualitäten voll ausspielen, und auch Kenneth Mattice war als Masetto ein Genuss. Die drei Frauengestalten zeigten in Spiel und Gesang Ambivalenz und Stärke, alle mit wunderbaren Stimmen, die jeweils der Situation angepasst waren: Angela Davis aus dem Ensemble als Donna Elvira, Netta Or als Donna Anna und Nayun Lea Kim als Zerlina. Beniamin Pop verkörperte Leporello mit starker Stimme und exzellenter Bühnenpräsenz, was im großen Beifall bedacht wurde. Die Regisseurin hatte ganz offensichtlich großen Wert auch auf die schauspielerische Darstellung gelegt, das wirkte sich im gesamten Verlauf äußerst positiv aus.
Angela Denoke, die Regisseurin, rauht die Handlung ordentlich auf, zeigt unterschiedliche Charakterzüge der Personen, gerät allerdings nie in Versuchung, Zuflucht zu einer Art Traumgeschehen zu suchen, wo alles geht, aber nichts erklärt werden muss. In ihrer Version der Nahtoderfahrung bleibt sie der Handlung treu, lässt die Episoden wie bei Mozart aufeinander folgen. An einigen Stellen wird aber gekürzt, so fällt z.B. die Szene weg, in der Giovanni in Leporellos Kleidern Masetto verprügelt. Deshalb beginnt der zweite Teil dann auch nicht mit dem Streit Giovanni – Leporello, sondern mit dem Versöhnungsduett Zerlina – Masetto.
Die Regie widmet sich besonders den einzelnen Personen, den unterschiedlichen Aspekten ihrer Charaktere. So erscheint Don Giovanni als ständig Getriebener, überaktiv, immer unter Druck stehend. Das wird in vielen Szenen deutlich gemacht. Denokes Interpretation, dass er auch Tendenzen zum Manisch-Depressiven hat, sind aber doch weniger zu erkennen. Zwar könnte die aus diesem Krankheitsbild sich entwickelnde Aggressivität in einigen Szenen, vor allem in denen mit Leporello, darauf hinweisen, die Passivität in depressiven Phasen kommt aber kaum zur Geltung, am besten noch in Giovannis Ständchen an Elviras Zofe im 2. Akt. Die Rolle seines Dieners Leporellos wird deutlich aufgewertet, der hier eher als eine Art Freund dargestellt wird, der wie selbstverständlich auch an seinen erotischen Aktivitäten teilnimmt, so dass vor allem Anna und Elvira von beiden betatscht werden und das auch durchaus genießen.
Anna, Elvira und Zerlina werden in dieser Inszenierung keinesfalls als Opfer dargestellt, sondern als starke Frauen. Anna war offenbar von der Begegnung mit Giovanni so überwältigt, dass sie, die ihrem schwachen Verlobten Ottavio in jeder Hinsicht überlegen ist, beständig schwankt zwischen erotischer Hingabe und Rache, weil Giovanni ihren Vater ermordet hat. Elvira kann und will nicht auf Giovanni verzichten, ist aber auch kein Kind von Traurigkeit. Sie lässt sich im 2. Akt, als Giovanni und Leporello eher symbolisch die Kleider tauschen (diesmal nur ihre Sakkos), auf ein erotisches Verwirrspiel ein, indem sie Giovanni umarmt, nachdem sie mit Leporello geschlafen hat. Und Zerlina ist keineswegs das kleine Bauernmädchen, sondern auch an ihrem Hochzeitstag durchaus an anderen Männern interessiert. Unterwürfig ist sie überhaupt nicht, und Masetto muss das akzeptieren. Annas Verlobter Ottavio kann zwar wunderschön singen, erscheint aber als schwächlicher Mann. Deutlich wird das in einer zweiten Arie: Darin schwört er so vehement, Rache an Don Giovanni zu nehmen, dass er von den anderen zurückgehalten werden muss, bricht dann aber zusammen und muss gestützt werden. Auch in vielen anderen Episoden bietet die Regie neue Aspekte, auch wenn nicht alle unmittelbar verständlich ist, so z.B., warum sich die Personen am Schluss bis auf die Unterwäsche ausziehen. Sinnfällig und liebevoll gemacht ist aber die Szene kurz vor Schluss des 1. Aktes, wenn drei Orchester gleichzeitig spielen, sogar Orchestermusikerinnen auf der Bühne erscheinen und Mitwirkende und Chor eine Choreographie bilden.
Tolles Orchester, hervorragende Sängerinnen und Sänger, neue und interessante Sichtweisen auf die Handlung.
Fritz Gerwinn, 8.5.2023
Weitere Vorstellungen: 17.5., 26.5., 4.6.2023