22.12.2011

Wuppertal

Wo bleibt die Schildkröte?

Mr. Rabbit and the Dragon King im Wuppertaler Opernhaus

 

Ja, wo bleibt die Schildkröte? Wieso erscheint sie nicht im Titel? Sie spielt nämlich auch eine ganz wichtige Rolle, als treueste Untertanin ihres Drachenkönigs und als Tigerbändigerin – durch die einfache Drohung, ihm in den Schwanz zu beißen (in welchen wohl?). Schließlich zeigt sie am Schluss ungewöhnliche Hartnäckigkeit, weil sie nicht glauben will, kräftig getäuscht worden zu sein.

 

Doch der Reihe nach: Dreimal spielte das Koreanische Nationaltheater das Stück mit dem seltsamen und unvollständigen Titel, das als Pansori-Oper bezeichnet wird. Auf die Bühne gebracht hatte es der bekannte Regisseur Achim Freyer, bekannt für seine hintersinnigen und lebendigen Inszenierungen, der auch im Opernhaus anwesend war und fröhlich Sekt trank. Und man wurde nicht enttäuscht.

 

Das Opernhaus war fest in koreanischer Hand. Die Autokennzeichen verraten, dass die Besucher von weit her gekommen waren.

 

Wer sich schon eine halbe Stunde vorher zur Einführung (ausgezeichnet und informativ durch Matthias R. Entreß) eingefunden hatte, bekam mit, wie Pansori-Gesang in Korea im Original funktionierte. Ein einzelner Sänger, nur von einem Trommler begleitet, erzählt die Geschichte sprechend, auf alle möglichen Arten singend und vor allem mit vielen gestischen und mimi-schen Mitteln. Einzelnes Requisit ist ein großer Fächer. Koreaner müssen Meister der Kon-zentration sein, denn so ein Stück mit nur einem Darsteller-Erzähler dauert im Original um die sechs Stunden. Auch in Korea wurde seit Beginn des 20. Jahrhunderts begonnen, den Text auf mehrere Personen zu verteilen, auf die Bühne zu bringen, daraus eine Art Oper zu machen, die Changgeuk genannt wird, alles verbunden mit einer Musik, die für europäische Ohren sehr ungewöhnlich klingt.

 

Achim Freyer hatte seine Pansori-Oper schon auf drei Stunden gekürzt, trotzdem wirkte der erste Teil, wegen vieler philosophisch-weltanschaulicher Passagen gelegentlich etwas lang (einige Zuschauer, vor allem mit jüngeren Kindern, waren nach der Pause nicht mehr anwesend). Der zweite Teil war dagegen äußerst kurzweilig.

 

Im Stück ist der Pansori-Sänger eine überdimensionale Dame in einem blauen Kleid, die das Stück beginnt und immer wieder eingreift, und aus deren Kleid immer wieder handelnde Per-sonen hervorkommen. Alle Personen hantieren auch mit Fächern, die Gesichter sieht man allerdings nicht, weil alle Personen Masken tragen. Einige davon erinnern an Picasso und ma-chen darauf aufmerksam, dass immer wieder Elemente der Moderne in das Stück eingebaut sind, ebenso wie Verfremdungen, Aktualisierungen, ironische Brechungen.

Das Stück: Der Drachenkönig des Südmeeres, Urquelle alles Meereslebens, ist krank, offen-sichtlich durch Umweltverschmutzung, denn überall liegen und hängen leere Plastikflaschen. Sein Kostüm, sehr fantasievoll wie alle anderen Kostüme, erscheint so, als ob zwei Personen darin steckten: die Füße sind ganz weit vom Kopf entfernt. Die Hofschranzen bemühen sich um den kranken König; offensichtlich sind Yin und Yang nicht im Gleichgewicht. Etliche Ärzte erscheinen, der Zuschauer erhält einen Kurzkurs in traditioneller chinesischer Medizin, leicht ironisiert, weil man die unendlich vielen kleinen Anteile nicht etwa in einem großen Topf mit genügend Wasser, sondern mit genau 1,8 Liter Wasser abkochen muss und dann 20, 30 oder 40 mal nehmen muss. Das hilft dem König aber nicht, obwohl ein gläsernes Tablett mit vielen Medizinflachen plötzlich frei in der Luft schwebt und man beiläufig erfährt, dass es in diesen Breiten nicht etwa vier, sondern fünf Himmelrichtungen gibt.

 

Die Einnahme der Leber eines Hasen soll das Mittel sein, das den Drachenkönig heilen kann. So einer lebt aber dummerweise auf der Erde. Jemand muss also hin und ihn bewegen, zum König zu kommen und seine Leber zu opfern. Keiner der höheren Hofschranzen will das tun. Also kommt hier die dritte Hauptperson ins Spiel: Buchhalter Schildkröte wird bemüht und erklärt sich auch bereit. Da erscheint aber seine warnende Mutter, die ihn tränenreich abhalten will, sich auf die gefährliche Reise zu begeben, er sei schließlich Einzelkind in der dritten Generation (kleiner Seitenhieb auf die chinesische Bevölkerungspolitik). Als die Schildkröte sich aber weiter entschlossen zeigt und auf den Ruhm verweist, den sie erringen wird, er-scheint auf einmal die komplette Familie Sumpfschildkröte und schickt ihn begeistert auf die weite Reise. Da im Südmeer aber keiner weiß, wie ein Hase aussieht, werden in einer ironischen Aktualisierung alle mögliche Maler bemüht, neben zwei Hofmalern Ai Weiwei, Andy Warhol, Dürer und Picasso. Alle versagen, Weiwei bringt nur ein großes X zustande, erst Pi-casso gelingt es, einen erkennbaren Hasen auf die Leinwand zu bringen, den die Schildkröte dann auch mitnimmt, um oben auf der Erde das richtige Tier erkennen zu können.

Oben, in der Oberwelt, (wir sind immer noch im ersten Teil!) stellen sich die Tiere vor und suchen einen König, werden aber vom Tiger gestört. Der ist besonders fantasievoll dargestellt, nämlich durch zwei Personen, eine bildet Kopf und Vorderleib, die zweite das Hinterteil, vor-ne ist der herausragende Penis, hinten der Schwanz mit einer Art Morgenstern wie bei einem Dinosaurier. Die Schildkröte muss, bis sie beim Hasen angelangt ist, allerlei lebensgefährliche Abenteuer bestehen. Auch der Tiger würde sie zu gern (als Sumpfschildkrötensuppe!) fressen. Und wie gewinnt die Schildkröte? Indem sie dem Tiger androht, ihn kräftig in sein edelstes Teil zu beißen.

Der Hase lässt sich dann von der Sumpfschildkröte bereden, mit in die Unterwasserwelt zu kommen. Dass seine Leber gebraucht wird, wird ihm natürlich nicht gesagt

Gelockt wird er mit der Aussicht, unten ausgerechnet militärischer Ausbildungsleiter zu werden, in einer Welt, in der es keine Waffen oder Gewalt geben soll, anders als in der Oberwelt. Der Hase rudert bei der Fahrt nach unten zu schnell und muss von der Schildkröte korrigiert werden, damit die beiden überhaupt voran kommen.

Inzwischen geht es dem Drachenkönig immer schlechter und er verlangt die Hasenleber. (Üb-rigens unterbricht erst an dieser Stelle eine Pause das Stück.) Und als der Hase angekommen ist, ist er sehr erstaunt, dass er nicht militärischer Ausbildungsleiter wird, sondern in einer Welt, die keineswegs so friedlich ist wie versprochen, sein Leben für eine Medizin hergeben soll.

Der Hase, überall wenig geachtet und immer auf der Flucht, beweist jetzt seine Schlauheit und seinen Einfallsreichtum. Zuerst behauptet er, kein Hase, sondern ein Hund zu sein, das finden König und Untertanen aber viel besser (noch ein kleiner Seitenhieb: es wird ja immer wieder behauptet, dass Chinesen alles essen, was vier Beine hat.). Es verfängt auch nicht, als er vorgibt, ein Kalb oder ein Fohlen zu sein. Dann legt sich der Hase auf den Tisch und bittet den Henker, ihn aufzuschneiden; der könne dann lange suchen, denn er habe gar keine Leber. Der Henker und die mit überdimensionalen Esswerkzeugen am Tisch sitzenden Hofschranzen stimmen dem begeistert zu, doch der König, dem es ständig besser zu gehen scheint, lehnt das ab, auch weil ihm der Hase immer sympathischer wird. Er bietet ihm sogar das Du an, so dass es weitergeht mit „Drägi“ und „Hasi“. Dieser wird immer kühner und behauptet, seine Leber in der Oberwelt gelassen zu haben, eingewickelt in ein Blatt und an einem Baum hängend, um dort in der Sonne zu trocknen. Den Einwand, das gäbe es nicht, kontert er mit dem Hinweis: Ich habe drei Löcher, eins fürs große Geschäft, eins fürs kleine Geschäft und eins, um die Leber rein- und raus zu nehmen. Auch der mehrfach wiederkehrende Henker und die hungrig ihre Messer und Gabeln schwingenden Hofschranzen können nicht verhindern, dass der Dra-chenkönig den Hasen und die Schildkröte wieder nach oben schickt, im die am Baum hän-gende Leber zu holen. Oben angekommen, triumphiert Hasi und verhöhnt die brave Schild-kröte. Als diese nicht glauben kann, getäuscht worden zu sein und den Hasen mehrfach bittet, ihm doch seine Leber zu geben, wird sie von diesem, der vorher so schöne hehre Geschichten erzählen konnte, als „inzestuöser Hurensohn“ beschimpft. Schließlich entleert sich der Hase geräuschvoll aus allen drei Löchern (die Leber bleibt aber im Hasen!), packt alles in einen Sack und wirft es der Schildkröte zu. „Damit kannst du deinen König heilen!“ Ob es damit gelungen ist?

Damit ist das Stück zu Ende. Unterschiedliche Sprachebenen werden gemischt. Vor allem im zweiten Teil dominieren Witz und Derbheit, das Tempo steigert sich und auch das Vergnügen des (leicht gelichteten) Publikums.

 

Über die Musik, z.T. übernommen, z.T. von Freyer in Auftrag gegeben, lässt sich wenig sagen, weil sie unbekannt und ungewohnt ist. Für meine Ohren verband sie sich aber zunehmend mit der Sprache und den Aktionen auf der Bühne. Zudem war die Handlung durch die punktgenaue Übertitelung (auf deutsch und koreanisch) hervorragend nachzuvollziehen, so dass man sich voll auf das koreanische „Gesamtkunstwerk“ konzentrieren konnte.

 

Wer nicht da war, hat ein wundervolles und anregendes Theaterereignis verpasst. Der Wuppertaler Musikintendanz ist sehr zu danken, dass sie dieses Stück nach Wuppertal geholt hat.

Fritz Gerwinn