Engel, versklavt und missbraucht
Du Yuns „Angel´s Bone“ in Wuppertal
Premiere am 1.9.2023, besuchte Vorstellung am 3.9. 2023
Geballter Saisonbeginn in Wuppertal. Das Schauspiel im Engelsgarten zeigte am 2. September die „Klimatrilogie“, nimmt eine knappe Woche später dann den „Faust“ wieder auf. Am selben Tag, parallel zur Premiere, spielte das Sinfonieorchester unter GMD Patrick Hahn auf dem Laurentiusplatz ein umjubeltes Open-Air-Konzert mit Frank Dupree und seinem Trio als Solisten, und eine gute Woche später findet schon das programmatisch ungewöhnlich interessante 1. Sinfoniekonzert mit Werken von Ligeti, PDQ Bach und Haydn in der Stadthalle statt. Die Oper begann schon einen Tag früher, das Opernhaus in Barmen blieb aber leer. Die Reparatur der durch die große Flut zerstörte Unterbühne, die bisher nur provisorisch hergerichtet war, braucht noch Zeit. Aber Not macht erfinderisch, und die neue Opernintendantin Rebekah Rota hatte sich informiert und sich etwas Tolles einfallen lassen. So fand die erste Premiere der Saison in der Alten Glaserei statt braucht. ein aufgelassenes Industriegebäude mit kahlen Wänden in der Nähe der Nordbahntrasse. Viele Zuschauer kamen mit dem Fahrrad oder mussten längere Fußwege in Kauf nehmen. Immerhin gab es Gastronomie, die auch von den Darstellern benutzt wurde. Passend zum Ort wurde keine klassische Oper präsentiert, sondern ein Thema von brennender Aktualität: Menschenhandel, Arbeitsausbeutung, moderne Sklaverei, sexuelle Gewalt. Das Thema wird auch in weiteren flankierenden Veranstaltungen aufgegriffen.
Gespielt wurde „Angel´s Bone“ der chinesischen Komponistin Du Yun, die dafür 2017 den Pulitzer-Preis erhielt. Die Oper, (Libretto Royce Vavrek) greift das Thema auf künstlerische Weise auf: Engel, also ätherische Wesen, werden schlimmer als Sklaven behandelt. Harte Kost für die Zuschauer, schlimmes Ende, überraschende Wendung am Schluss, die auf die herrschende Medienkultur ein starkes Licht wirft. Regisseurin Jorinde Keesmaat brachte alles einleuchtend auf die Bühne.
Einlass war erst fünf Minuten vor Beginn des Stücks. Das hatte seinen Grund. Der Chor sang schon, erzeugte einen dissonanten Gesamtklang, die Mitglieder bewegten sich dabei im Halbdunkel vor einer Art Drahtzaun. Wenn man seinen Platz gefunden hatte, erkannte man, dass dies die Gitter eines Laufkäfig waren, wie sie im Zirkus benutzt werden, um Tiere in die Manege zu führen. Dieser T-förmige Käfig  war in der Mitte des Raumes platziert, die Zuschauer saßen an beiden Seiten ((Bühne: Sammy van den Heuvel).
Eindringlich wird gezeigt, wie sich ein Ehepaar (Mrs. X.E. und Mr. X.E., den man zu Beginn nur hört und der erst später erscheint) sich auseinandergelebt hat. Die entdecken dann aber in ihrem Garten Engel, erschöpft, versehrt und auf Hilfe hoffend, acht an der Zahl, die auf beiden Seiten des Käfigs orientierungslos in den Raum kriechen. Zuerst überrascht und erfreut, will das Ehepaar die Engel behalten, die Frau befiehlt ihrem Mann, die Engel flugunfähig zu machen und in die engen Käfige zu sperren, für die Engel eine klaustrophobische Situation, die auch die Zuschauer erfasst.
Einzelne Engel werden aus ihrem Käfig geholt und benutzt und betatscht. Frau X.E. geht offensichtlich sogar mit einem von ihnen ins Bett. Da ist aber keine Spur von Einvernehmlichkeit, der Engel wir absolut lieblos behandelt und nach erfolgter Tat weggestoßen. Und Mr. X.E. vergewaltigt einen der Engel auf brutalste Weise auf dem Tisch in der Mitte der Bühne, was sehr deutlich gezeigt wird und schockiert. Nach diesen gewaltsamen Attacken haben die verletzten Engel aber immerhin Gelegenheit, ihren erbarmungswürdigen Zustand zu reflektieren und darzustellen. Besonders berührend gelingt das dem Vergewaltigungsopfer, dem Girl Angel.
Ihre in Traumsequenzen ausgedrückte Hoffnung auf Besserung erfüllt sich nicht. Sie werden zur Schau gestellt und zur Benutzung für zahlende Gäste freigegeben (dem Publikum wird dabei Sekt serviert) Das ist für die Engel besonders schlimm, weil sie in der allgemeinen Wahrnehmung als rein und körperlos gelten.
Überlagert werden die schlimmen Taten aber noch von den Visionen von Mrs. X.E., die auf Videoleinwänden (Videos: Frauke van den Heuvel) sehr drastisch gezeigt werden. Durch den Kontakt mit Engeln hält sie sich für „gesegnet“, glaubt, dass das auch für alle gilt, die mit Engeln zu tun haben, egal auf welche Weise. Sie genießt ganz offensichtlich den Sex mit Engeln, der von ihrer Seite aber sehr lieblos ist, trotzdem aber dazu führt, dass ihrem Mann endgültig keine Chance mehr bei ihr hat. Schließlich fühlt sie sich sogar vom Engel geschwängert. Hier wird sehr deutlich Bezug genommen auf die biblische „Verkündigung“ der Schwangerschaft von Maria und verstärkt die immer wieder vorkommenden Zweifel an dieser Geschichte, indem suggeriert wird, dass der Erzengel Gabriel nicht nur der Verkünder der Schwangerschaft war, sondern ihr Initiator. Auch auf der Bühne fühlt sich Mrs. X.E. immer mehr als Maria, kleidet sich wie sie, trägt lange blaue Marienmäntel. Ihre irrealen Vorstellungen werden verstärkt durch das vom Chor produzierte mystische Klangbild.
Inzwischen wird Mr. X.E. immer mehr von seinem Gewissen geplagt, will den Engeln die Freiheit zurückgeben. Wie sie verschwinden, bleibt aber offen. Jedenfalls wird er derart von seinen Dämonen verfolgt, dass er sich umbringt. Vier schwarze Gestalten zwingen ihn in ein Teil des Käfigs, in dem am Anfang die Engel gesessen haben, bewerfen ihn mit Federn.
Das ungewöhnliche Ende überrascht: Mrs. X.E., allein zurückgeblieben, dreht in Erwartung vieler Fernsehinterviews die Geschichte komplett um und schiebt alle Schuld ihrem Mann zu. Dabei hat sie alle Befehle gegeben und die schrecklichen Taten veranlasst. Aber auch bei ihr meldet sich das Gewissen, immer lauter. Ihre letzte Szene singt sie im Parkett, mitten im Publikum.

Eine große Rolle hat der Chor zu bewältigen, die jeweilige Stimmung darstellend und kommentierend, so z.B. am Schluss: „Federn in den falschen Händen werden zu Dornen.“ Einige Mitglieder sind als Kunden der Engel eingesetzt. Alle singen und spielen dies fantastisch und bestechend.
Die Musik von Du Yun ist im besten Sinne eklektisch, besteht aus unterschiedlichsten Stilarten, die pausenlos ineinander übergehen. Dies zeigt sich schon an den Instrumenten des kleinen Orchesters: neben wenigen Streichern und Bläsern gibt es eine Barocklaute und eine deutlich hörbare virtuose Tuba. Wenn beide Gruppen zusammenspielen, sind zwei Dirigenten nötig. Für den Chor Ulrich Zippelius, für das Orchester Johannes Witt. Sie führen beide Gruppen sicher durch die verschiedenen Stilebenen, u.a. dissonanzenreiche Teile, rhythmisch betonte tonale Musik, Choräle, songartige Passagen. Nur die Punkrockpassagen waren offensichtlich vorher produziert und wurden nahtlos eingeblendet.
Bei Intendantenwechsel kommen auch neue Sängerinnen und Sänger. Das neue Ensemble ist noch nicht komplett, aber diejenigen, die sich hier vorstellten, zeigten hervorragende Leistungen. Zuerst zu nennen ist Edith Grossman als Mrs. X.E., die großartig spielte und überwältigend auch die schwierigsten Passagen meisterte. Ebenso hervorragend als Mr. X.E. Zachary Wilson, der ab 2024 Ensemblemitglied sein wird. Drei Solisten in weiteren tragenden Rollen überzeugten: Anna Angelini als Girl Angel, Jason Lee (ebenfalls neues Ensemblemitglied) als Boy Engel, Countertenor Gerben van der Werf als Erzengel. Alle mussten sowohl sängerisch als auch in der Darstellung an ihre Grenzen gehen.

Fritz Gerwinn, 5.9.2023