Wozu Kunst?
Goldschmied Cardillac als Kunst-Terrorist
Hindemiths Oper „Cardillac“ im theaterhagen
Premiere am 21. September 2019
Die Geschichte von Cardillac, zum ersten Mal von E.T.A. Hoffmann erzählt, hätte auch als Krimi auf die Bühne gebracht werden können. Ganz Paris fürchtet eine neue Tat eines Serienmörders, alle Opfer sind interessanterweise Käufer der Schmuckstücke des hochgeschätzten Goldschmieds Cardillac. Dieser ist aber selber der Mörder, weil er sich von seinen Werken nicht trennen kann, wird schließlich aber enttarnt und gelyncht.
Das Team um den Regisseur Jochen Biganzoli (darunter Hagens Intendant Francis Hüsers als Dramaturg), das schon in der letzten Saison erfolgreich und von der überregionalen Presse hochgelobt Wagners Tristan inszeniert hatte, setzte aber einen anderen Schwerpunkt. Thema ist die Rolle der Kunst in unserer Welt, aufbauend auf und sich abarbeitend an der vorliegenden Geschichte eines „Kunst-Terroristen“. Das geschieht vor allem durch Videoeinblendungen von unterschiedlichen Zitaten zur Kunst auf einer großen Leinwand, vor der sich die Szenen abspielen. Beinhaltet aber die Gefahr, dass die zugrunde liegende Geschichte in Einzelbilder zerfällt, es sei denn, es wird bewusst angestrebt. Wenn sich am Anfang der Vorhang hebt, erhebt sich auch der liegende Chor und sucht mit Taschenlampen nach dem Serienmörder, verdächtigt dabei auch Unschuldige. Irritierend dabei ist, dass Cardillac von Anfang an dabei ist, alles steuert, Mikrofon und Videokamera benutzt. Ähnlich wie Don Giovannis Diener Leporello hält er in einem kleinen Notizbuch alles, was er tut, fein säuberlich fest. In der nächsten Szene – eine Dame will ihrem Liebhaber eine Nacht gönnen, wenn er ihr ein Schmuckstück von Cardillac schenkt – schreibt Cardillac selbst dem Galan „Love for Sale“ auf den nackten Oberkörper. Wenn die Dame dann nachts ihren Liebhaber erwartet, ist sie alt und geht auf Krücken. Drei Frauen unterschiedlichen Alters erscheinen, posieren und machen dabei Selfies von sich, während auf der Videoleinwand erscheint „Kitsch ist die Tochter der Kunst, die Tochter ist jung und duftet, die Mutter ist ein uraltes stinkendes Weib.“
Die folgende Liebesszene in der Nacht wird gar nicht auf der Bühne gespielt, es erscheinen nur die Szenenanweisungen auf der Leinwand. Lediglich der Mord findet auf der Bühne statt. In ähnlicher Weise werden auch im weiteren Verlauf Szenen verrätselt, aber mit Videotexten unterschiedlichster Art begleitet. So erscheint einmal „Art must be beautiful“, das wird aber konterkariert durch „Wer Kultur schaffen will, muss Kultur zerstören.“ Auch unser Bundespräsident wird zitiert: „...einst galt der Tod als Meister aus Deutschland (Zitat aus Celans „Todesfuge“). Heute ist die Kunst ein Meister aus Deutschland.“ Dagegen der Futurist Marinetti 1909: „Welche Freude, auf dem Wasser die alten ruhmreichen Bilder zerfetzt und entfärbt treiben zu sehen...“. Wer denkt da nicht an Banksys Bild, das sich nach dem Kauf (für 1.2 Millionen!) selbst
zerschredderte! Auch das Bauhaus kommt im Jubiläumsjahr mit einer Aussage zum Verhältnis von Künstler und Handwerker zu Wort.
Vor diesen Hintergründen entfalten sich die gespielten Szenen, oft nicht gleich zu verstehen. So umarmt Cardillac im 2. Akt, wenn er über die Liebezu seiner Tochter und seinen Kunstwerken redet, eine gesichtslose Puppe. Und am Schluss wird der Goldschmied nicht, wie im Libretto, nach seiner Selbstenttarnung von der Menge erschlagen, sondern es findet eine Mischung aus Kreuzigung und Apotheose statt, bei vollem Licht im Publikum und Sängern von der Empore, so als würde seine Kunstauffassung, selbst wenn sie krankhaft bei ihm zu Mord und Totschlag führte, nicht ganz zu verachten sei. Szenisch also durchaus schwere Kost, viel zum Nachdenken.
In musikalischer Hinsicht wurde Großartiges geleistet. Hindemiths Musik hat viele Facetten. Das durmolltonale Erbe will er nicht, auch die zur Zeit der Komposition (Uraufführung 1926) häufig verwendete Zwölftonsystem verwendet er nicht. Er benutzt eine erweiterte Tonalität mit vielen Dissonanzen. Trotz solch ungewohnter Klänge erinnert vieles an J.S. Bach, durch viele Sequenzen und Kontrapunkte, dazu kommen etliche nur mit wenigen Instrumenten besetzte kammermusikalische Passagen. Auffällig sind einige längere Unisoni der Streicher, viele Stellen nähern sich aber auch einem gewissen Bruitismus. All dies gelang dem Hagener Orchester unter Joseph Trafton überzeugend. Über dieser vielgestaltigen Musik liegen die Stimmen der Solisten und des Chors, müssen sich gegen das Orchester durchsetzen, nicht nur was die Lautstärke betrifft, sondern auch wegen der ungewöhnlichen Tonalität. Hier waren SängerInnen und Chor in Bestform. Das Hagener Theater hatte einige Gäste eingeladen, konnte viele Rollen aber auch aus dem hauseigenen Ensemble besetzen. Thomas Berau war ein stimmstarker Cardillac, die beiden Tenöre Milen Bozhkov als Offizier und Thomas Paul bewältigten ihre bis an die stimmlichen Grenzen gehenden Partien großartig, Angela Davis als Cardillacs Tochter und Veronika Haller als Dameglänzten mit schönen Spitzentönen. Dazu gehörten auch Ivo Stánchev als Goldhändler mit schwarzem Bass und Kenneth Mattice in einem Videoauftritt. Auch der verstärkte Chor ist nur zu loben, der seine musikalisch schwierigen Passagen lange geprobt haben musste und auch szenisch überzeugend agierte.
Trotz des freundlichen Beifalls am Schluss gab es sicher gewisse Irritationen. Die lösen sich aber auf, wenn einem klar wird, dass in dieser Inszenierung die Rolle der Kunst in unserem Leben intensiv thematisiert worden war, mit gegensätzlichen und widersprüchlichen Aussagen, und das alles basierend auf der Geschichte des Goldschmieds Cardillac, als Kunst-Terrorist dargestellt.
Wenn es gelungen ist, dass viele Menschen über die Rolle der Kunst heftig ins Nachdenken kommen, hat diese Inszenierung viel erreicht. So ein Konzept muss aber sein Publikum finden.
Fritz Gerwinn, 23.9.2019