Massenets Oper „Werther“ in der Wuppertaler Stadthalle

 

Premiere am 8. September 2018

 

Die neue Saison der Wuppertaler Oper wurde diesmal nicht im Opernhaus, sondern in der Stadthalle eröffnet. Saisonauftakt war die konzertante Aufführung der Oper "Werther" von Jules Massenet, allerdings waren szenische Konzeption und Videoeinspielungen dazu angekündigt. Der große Beifall am Schluss in der nicht vollen, aber gut besetzten Stadthalle, darunter sehr viele junge Leute, bewies, dass dies Konzept keineswegs ein Notbehelf war, sondern sich als absolut stimmig erwies.

 

Über dem Orchester hing eine große Projektionsfläche mit altertümlichem Rahmen, in dem eine Fläche für die deutschen Untertitel der französischen Oper freigelassen war. Schon beim Eintritt und auch nach der Pause war dort jeweils ein Zitat in Faksimile aus dem zugrunde liegenden Roman Goethes zu lesen. „Ja wohl bin ich nur ein Wanderer, ein Waller auf der Erde! Seid ihr denn mehr?" verdeutlichte schon am Anfang die Thematik. Und das Zitat „Musste denn das so sein, dass das, was des Menschen Glückseligkeit macht, wieder die Quelle seines Elends wurde." präzisierte noch einmal haarscharf, um was es ging.

 

Als John Nelson, erfahrener Massenet-Dirigent, vor das vollbesetzte Orchester trat, wurde der Saal dann auch verdunkelt, und auf den Leinwand erschien zuerst eine Wiese im Frühling, ein Baum wurde langsam heran gezoomt, blieb immer Mittelpunkt des Bildes, allerdings in unterschiedlichen Erscheinungsformen, und spiegelte nicht nur die Jahreszeiten, sondern auch die Seelenzustände der Protagonisten (Videos: fettfilm).

 

Wenn die Personen in der Oper auf der Bühne auftraten, erschienen sie auch vor dem Orchester, sangen nicht nur, sondern machten auch die Handlung in angemessener Weise klar (szenische Konzeption Karin Kotzbauer-Bode). Dadurch zeigten sich auch die Vorzüge des gewählten Konzeptes. Denn von wenigen Szenen abgesehen, in denen etwas auf der Bühne passiert, besteht die Oper aus längeren Monologen und Duetten, die das Innenleben der Personen nach außen tragen, und zwischendurch und auch in längeren Passagen ist das Orchester Träger der inneren Geschehnisse. Ein Regisseur hat hier weniger zu tun, werden doch die Leiden und Freuden der handelnden Personen eher als von der Musik bestimmtes Kammerspiel in den Mittelpunkt gestellt. Vor allem die Rolle des Orchesters stand in dieser Aufführung im Fokus. Unter John Nelsons Leitung zeigte das Wuppertaler Orchester in brillanter und nuancenreicher Weise, wie Massenet die Emotionen der handelnden Personen genauestens darstellt, so präzise, dass man an manchen Stellen fast meinen könnte, auf die Stimmen verzichten zu können. Besonders die Zerrissenheit der beiden Hauptpersonen Werther und Charlotte finden ihre Entsprechung in der Musik, mit plötzlichen Wendungen, krassen Lautstärkewechseln, harmonischen Kühnheiten, aber auch mit gut nachvollziehbarer motivischer Arbeit und farbenreicher Instrumentation. Gelegentliche Erinnerungsmotive kommen vor, Wert legt der Komponist aber auch auf deutlich hörbare Kontraste, so z.B. in den Szenen mit den Saufbrüdern Schmidt und Johann und bei den Tanzrhythmen am Ende des 1. und 2. Aktes. Die ganze emotionale Bandbreite wurde vom Orchester unter John Nelson hervorragend umgesetzt. Offensichtlich gut verständigt hatte man sich über Stellen, in denen Solisten vom Orchester im Fortissimo begleitet wurden. Die Sänger waren auch bei diesen heiklen Stellen immer als wichtigste Stimme zu hören, wurden an keiner Stelle vom Orchester überdeckt. Besonders gut herausgearbeitet fand ich das Zwischenspiel zwischen 3. und 4. Akt.

 

Die Solisten stammten alle aus dem Wuppertaler Ensemble und zeigten sich alle in hervorragender Form. Sangmin Jeon als Werther bewältigte seine umfangreiche Partie grandios, einerseits mit strahlenden hohen Tönen, andererseits auch in lyrischen Passagen überzeugend und farbenreich. Ihm ebenbürtig war Catriona Morison als Charlotte, die die gesamte emotionale Bandbreite ihrer Rolle mit ihrer außergewöhnlich schönen Stimme exzellent über die Rampe brachte. Simon Stricker als Charlottes Ehemann Albert überzeugte mit voluminösem Bariton, zeigte auch darstellerisch die Wandlung zum besitzergreifenden Ehemann gut auf. Ralitsa Ralinova als von Werther verschmähte quirlige Sophie beglückte mit empfindsamer Gestaltung und klaren hohen Tönen. Auch die kleineren Rollen waren mit Mitgliedern des Wuppertaler Ensembles besetzt, die alle ihre Qualitäten ausspielen konnten.

 

Die Kinder des Kinder- und Jugendchors der Wuppertaler Bühnen (Leitung Markus Baisch) sangen hervorragend, kosteten das Werthers Tod kontrastierende Weihnachtslied als aggressiv-anarchistische Gaudi voll aus. Ihr starker Auftritt zeigte wieder einmal, dass fast nichts das Selbstbewusstsein so stärkt wie Singen.

 

Auf der Videoleinwand zeigte sich fast durchgängig ein Baum, einige Änderungen sind aber doch bemerkenswert: schemenhafte Gestalten bei angedeuteter Tanzmusik, Blicke durch herangezoomte Fenster, die wie Gitter wirken und Ausweglosigkeit andeuten, Schneetreiben, das aussetzt, wenn Werther und Charlotte klar sehen; schließlich (offensichtlich) im 3. Akt ein Bild von Charlottes Mutter, die an allem schuld ist, hat sie doch ihrer Tochter auf dem Totenbett das Versprechen abgenommen, Albert zu heiraten.

 

Insgesamt eine hervorragende, sehens- und vor allem hörenswerte Aufführung.

 

Fritz Gerwinn, 11.9.2018

 

Weitere Aufführungen im Opernhaus (!): 30.9.2018, 18 Uhr; 2.12.2018