Rigoletto

Atemlose Stille
Neueinstudierung von Timofej Kuljakins Inszenierung von Verdis „Rigoletto“ in Wuppertal
Premiere der Neueinstudierung am 8. Januar 2023


Wieder feierte das Wuppertaler Publikum eine inszenatorische Offenbarung, die Neuinszenierung bestätigte, dass der russische Regisseur Timofej Kuljabin den Rigoletto fast neu erfunden hat, obwohl oder gerade weil er dabei ganz konsequent von der Musik Verdis ausging. Die Handlung war präzise in unsere Zeit geholt und zeigte überraschende Parallelen zur heutigen politischen Wirklichkeit, noch mehr als 2017, obwohl oder gerade weil aktuelle Bezüge nicht bedient wurden. Durch seine Interpretation hat er fast wie nebenbei die dramaturgischen Ungereimtheiten beseitigt, die gerade bei „Rigoletto“ immer wieder irritieren. Er akzentuierte die Handlung anders, präzisierte dadurch die Motive der handelnden Personen und schärfte ihre Profile, indem er sie in all ihrer Widersprüchlichkeit auf die Bühne brachte.
Beim zweiten Sehen geraten einige Dinge mehr in den Fokus als vor sechs Jahren. Zuerst einmal erscheint die Ehefrau des Herzogs tatsächlich auf der Bühne, von diesem misshandelt und gedemütigt. Dadurch wird sein egomanischer Charakter noch schärfer deutlich gemacht. Diese genaue Arbeit des Regisseurs bis in die Details zeigt sich auch in der Inszenierung der Arien. Keine Spur von Schöngesang an der Rampe, sie werden konsequent in die Handlung eingebunden und belebt. So agiert Rigoletto am Ende des ersten Bildes in seiner Arie mit dem verhafteten und gefolterten Monterone, der ihn kurz vorher mit seinem Fluch aus der Fassung gebracht hat, und selbst bei der berühmten Arie des Herzogs im letzten Akt passiert einiges auf der Bühne.
Bemerkenswert, dass die Wuppertaler Oper bis auf die Hauptperson alle Rollen mit eigenen Kräften besetzen konnte, und die machten das alle fabelhaft. Vitttorio Vitello als Rigoletto hatte gerade eine schwere Erkältung überwunden, stand die Rolle aber durch, sang aber verständlicherweise auf Sicherheit. Die Besucher der folgenden Vorstellungen können sich aber freuen. Sagmin Jeon war der Herzog, stellte den koksenden Kleiderfetischisten – bei jeder Eroberung ein neues Outfit – brillant dar und sang auch so. Täuscht mich der Eindruck, dass seine hohen Töne noch ein bisschen strahlender waren als beim letzten Mal? Die Sensation des Abends war aber Ralitsa Ralinova als Gilda. Selten ist so eine Einheit von Gesang und Darstellung zu bewundern. Die Leidenschaften der geistig zurückgebliebenen Tochter Rigolettos hätten nicht besser ausgedrückt werden können. In ihrer Darstellung wurde viel deutlicher als in anderen Inszenierungen, dass sie mit dem Plan ihres Vaters, den Herzog, ihren Verführer, zu ermorden, überhaupt nicht einverstanden ist.
Und dann war da ja noch das Orchester unter Patrick Hahn, dessen Spiel ein einziger Genuss war. Inszenierung und Musik bildeten eine komplette Einheit. An entscheidenden Stellen konnte die Lautstärke extrem gesteigert werden, die Handlung vorantreibende Tempoverschärfungen gelangen sowohl im Orchestergraben als auch auf der Bühne. Aber auch die leiseren, lyrischen Passagen, Ritardandi, Fermaten wurden klangschön und genauestens ausgeführt. Da muss das gesamte Orchester auf der Stuhlkante gesessen haben und die Ausführenden auf der Bühne müssen hochkonzentriert gewesen sein!
Dass das alles wunderbar über die Rampe kam, zeigte sich auch an der Reaktion des Publikums: Atemlose Stille, man hätte die berühmte Stecknadel fast im gesamten Verlauf fallen hören. Und nur nach wenigen Arien und Duetten gab es Zwischenbeifall, Zeichen dafür, dass die Handlung extrem spannend umgesetzt war und faszinierte.
So nimmt es nicht Wunder, dass der Beifall am Schluss für alle Mitwirkenden riesengroß war, noch einmal lauter für Jeon, Ralinova und Hahn. Standing Ovations. Nur das Regieteam um Kuljabin hätte ich beim Schlussbeifall auch gerne auf der Bühne gesehen.
Hier noch ein Überblick über Kuljabins Geniestreich: Er hält den ursprünglichen Plot der Oper nicht für glaubwürdig, hat deshalb andere Wege der Realisierung im Heute gesucht. Die Zuschauer wurden über die Veränderungen nicht im Unklaren gelassen. Was gespielt wurde, erschien während des Vorspiels vorne auf der Leinwand: Mantua ist ein korrupter osteuropäischer Kleinstaat, die Regierungspartei „Mantua United“, deren Vorsitzender der Herzog ist, hat gerade eine manipulierte Wahl gewonnen. Rigoletto ist Talkmaster und Meinungsmacher im staatlichen Fernsehen, dem wichtigsten Machtinstrument der regierenden Partei. Das Schloss des Herzogs ist die Parteizentrale. Viele der handelnden Personen, die sonst erst im Verlauf der Handlung miteinander zu tun bekommen, sind hier von Anfang an eng beieinander. Die Höflinge Ceprano, Marullo, und Borsa sind Vorstandsmitglieder von „Mantua United“, aber auch Monterone, Gegenspieler Rigolettos, ist Vorstandsmitglied und von Anfang an auf der Bühne. Der Auftragsmörder Sparafucile arbeitet hier als Security-Mitarbeiter, und seine Schwester Maddalena kellnert. Die Wahlparty zeichnet sich aber nicht durch große Fröhlichkeit aus, denn alle leiden unter dem willkürlich agierenden psychopathischen Herzog, der sich alles herausnehmen kann, als sexbesessener Vergewaltiger dargestellt wird. Die Vorstandsmitglieder können aber, selbst zerstritten, nichts gegen ihn tun. Nur Monterone, dessen Tochter der Herzog auch vergewaltigt hat, traut sich, dem Herzog seine Missetaten vorzuwerfen, wagt also den Aufstand, wird aber sofort festgenommen und gefoltert.
Sowohl im ersten als auch im dritten Akt ermöglicht das Bühnenbild (Oleg Golovko) die Umsetzung der inszenatorischen Ideen: Neben dem großen festlichen Raum, in dem sich die personalintensiven Szenen abspielen, gibt es auf der rechten Seite noch einen kleinen, schmucklosen Raum. Dort finden die intimeren und z.T. verschwörerischen Gespräche statt, dort spielt aber auch die letzte Szene, Gildas Tod. In diesem Raum bietet auch Sparafucile, der noch bei Monterones Verhaftung aktiv war, Rigoletto seine Dienste an, nämlich seine Feinde mit Hilfe seiner Schwester gegen Bares zu ermorden.
Rigoletto erscheint nie im Narrenkostüm, ist bürgerlich gekleidet. Die Fallhöhe zwischen zynischem Machtgebrauch und Tochterliebe ist hier beträchtlich. An Rücksichtslosigkeit übertrifft er bei der Demütigung Cepranos sogar noch den Herzog, diesem gnadenlosen Zynismus wird die Sorge um seine Tochter ganz hart gegenübergestellt. Höhepunkt dieser Widersprüchlichkeit ist der Schluss: Nach seiner Klage über den Verlust der Tochter drückt er ihr die Kehle zu, packt sie wieder in den Müllsack, geht vom kleinen Zimmer in den Saal und nimmt seinen Platz am Regierungstisch des Herzogs ein. Entsprechend endet die Oper auch nicht mit seinem „Ah, la maledizione“, sondern mit der Bühnenmusik des Anfangs.
Zu Gilda hat sich Kuljabin besonders viel einfallen lassen, in Zusammenarbeit mit seinem Dramaturgen Ilya Kukharenko. Nichts von dem dramaturgisch problematischem Alleinwohnen in einem versteckten Haus im verrufenen Viertel unter Aufsicht der bestechlichen Amme und den besorgten Besuchen des Vaters, von dem Gilda nicht einmal den Namen weiß. In dieser Inszenierung ist Gilda geistig zurückgeblieben und Insassin einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt – und das ist so plausibel inszeniert, dass man sich fragt, warum nicht schon jemand früher darauf gekommen ist. Denn die Musik erscheint auch dazu genau passend, als hätte Verdi sie tatsächlich für eine junge, naive Frau mit erheblichen psychischen Störungen komponiert. Dass die Korruptheit des Kleinstaats Mantua alle betrifft, zeigte sich in der „Amme“ Giovanna, die sich als Chefärztin der geschlossenen Anstalt aber nicht scheut, ihre Insassinnen potenten Kunden gegen Geld für sexuelle Dienste zur Verfügung zu stellen.
Eine brillante Regie also. Eine Inszenierung, in der alles ineinanderpasst, mit tollen Sängern und tollem Orchester, kann glücklich machen. Das ist so eine!
Weitere Aufführungen:  12.1., 5.2., 18.2.2023
Fritz Gerwinn, 10.1.2023