Wuppertal
Der Universums-Stulp
Eine musikalische Bildgeschichte in drei Heften nach dem gleichnamigen Roman von Eugen Egner
Musik: Stephan Winkler
Libretto: Eugen Egner, Stephan Winkler, Thierry Bruehl
Premiere am 7. Februar 2014
Wenn man sich noch nicht näher mit Eugen Egners Universum beschäftigt hat, hat man es zuerst schwer. Wie soll man einer recht komplizierten Handlung mit unerwarteten Volten, Gedankensprüngen, absurden Nebenwegen nur folgen? Wenn man dann aber beginnt, auf die Bildung von herkömmlichen Sinnzusammenhängen zu verzichten und einfach zusieht und zuhört, dabei Transdimensionales (was das auch immer sein mag) zulässt und sich damit auf den Egner-Kosmos einlässt, wird aus Anstrengung Vergnügen. Das muss auch nicht an der Oberfläche bleiben, Tiefgang ist an vielen Stellen möglich.
Bei der Uraufführung war deutlich zu sehen, dass der Wuppertaler Eugen Egner eine ziemlich große Fangemeinde hat, und dass dieser große erweiterte Freundeskreis unbedingt die Vertonung seines Romans im Wuppertaler Opernhaus erleben wollte. Viele Besucher waren da, die sonst wohl eher nicht in die Oper, geschweige denn in Premieren gehen, wodurch der Alterdurchschnitt kräftig nach unter gedrückt wurde. Wie der Beifall am Schluss zeigte, für den Komponisten besonders stark, waren offenbar alle zufrieden bis begeistert mit seiner Art der musikalischen Umsetzung der Vorlage. „Das musste so sein, genau so hab ich´s erwartet!“, so ein Egner-Fan in der Pause.
Dass so eine Uraufführung überhaupt und dann auch noch in Wuppertal stattfinden konnte, ist keineswegs selbstverständlich. Die Oper Wuppertal mit ihren vergleichweise minimalen Mitteln hätte dies auch nicht allein stemmen können. Aber Johannes Weigand als Intendant und Enno Schaarwächter als Geschäftsführer haben ganz schnell zugegriffen, als mit Unterstützung der Kunststiftung NRW sich die Möglichkeit dieses Opernprojektes ergab, immerhin das erste in einer Reihe von weiteren experimentellen Initiativprojekten. Sie waren bereit, dieses künstlerische Wagnis einzugehen, und haben damit der letzten Saison des jetzigen Ensembles ein weiteres Highlight hinzugefügt. Im Programmheft ist dargelegt, wie eine solche Produktion funktioniert: „Hier verbinden sich Komponist, Autor und Regisseur als künstlerisches Leitungsteam mit einem international führenden Ensemble für zeitgenössische Musik, und ein kommunales Haus bringt sich mit seinen Künstlern und Künstlerinnen ein.“ Mit erheblicher finanzieller Unterstützung der Kunststiftung haben also der Komponist Stephan Winkler, der Autor Eugen Egner und der Regisseur Thierry Brühl als Leitungsteam und das renommierte Spezialistenensemble musikFabrik unter Leitung von Peter Rundel mit dem Opernhaus Wuppertal erfolgreich kooperiert.Oper sollte es aber nach den Vorstellungen des Komponisten nicht sein. Stephan Winkler dazu (nach Eugen Egners Urteil übrigens „der beste Kenner meines Romans“): „Anstelle der Ausbreitung und psychologischen Ausleuchtung einer mehr oder weniger tragischen Figurenkonstellation wird das Publikum in einen Strudel sich überstürzender Ereignisse gezogen – eine immer abenteuerlicher und albtraumhafter werdende Folge überraschender Wendungen, die über den Zuschauer auf ähnlich kafkaeske Weise hereinbricht wie über den Protagonisten Traugott Neimann selbst.“ Im Untertitel heißt es deshalb auch „Eine musikalische Bildgeschichte in drei Heften“. Hefte lassen sich notfalls ja noch mit den herkömmliche Akten in Verbindung bringen (die Pause wurde dabei in die Mitte des zweiten Heftes platziert), aber die musikalische Bildgeschichte verlangt schon Neues, und zwar in mehrfacher Hinsicht.
Zuerst einmal: Wie bringt man einen Comic in Musik? Am Anfang standen Sprachaufnahmen des Librettos durch Wuppertaler Schauspieler, die dann (so hat das Janacek auch schon gemacht) in Noten transkribiert und dann weiter verändert und individualisiert wurden. Die Figuren deklamieren also auf unterschiedliche Art und werden z. T. verfremdet. Eine Figur (Pabst Probstenloch) singt also nur Vokale, während die Konsonanten zugespielt werden, eine andere, Thalia Fresluder, singt nur mehrstimmig, eine auf der Bühne, die anderen kommen per Zuspiel von der Seite. Da alle Figuren jede Menge Text haben, der möglichst verstanden werden soll, tragen alle Mikroports, sprechen oder singen entweder selbst oder mimen zu ihren aus dem Off kommenden Stimmen.
In diesem Zusammenhang hat noch nicht alles geklappt, denn nicht alles war verständlich, besonders auffallend dabei im Vorspiel beim Fenstersturz die „höheren Mächte“. Auch waren die unterschiedlichen Verfremdungen und deren Sinn nicht unmittelbar deutlich. Ist die Mehrstimmigkeit (wenn man sie denn hört) bei Thalia Fresluder als sich ständig wandelnde Gestalt noch einsichtig, so ist doch nicht ganz klar, warum Valerian nur die Lippen bewegt, während seine Stimme von außen kommt, und aus welchem Grund Probstenloch nur Vokale singt, so dass seine Worte letztlich unverständlich bleiben. Wenn man dann später aber doch erfährt, dass der Komponist sich schon lange mit der „Verwischung der Grenzen zwischen „natürlich“ und „synthetisch“ und den dadurch entstehenden Verwirrungen in der Wahrnehmung“ beschäftigt, wird im Nachhinein doch einiges klar.
Was die Instrumentalschicht angeht, befand sich der Komponist in der komfortablen Situation, für ein bestehendes auf neue Musik spezialisiertes Solistenensemble arbeiten zu können, das seine Ideen genau umsetzt. Mir schien so, dass der Komponist im 1. Teil den „wilden Strudel der Ereignisse“ im Sinn hatte, weil sich die Musik ständig hektisch vorandrängte, kaum Ruhepunkte hatte, wobei oft in sich bewegte Klangflächen eine Rolle spielen, aber auch Mickey-Mousing-Technik (z.B. beim Fenstersturz) vorkommt. Während sie bis dahin eher begleitet, bietet sie im 2. Teil deutlich mehr Unterschiede auf, charakterisiert und interpretiert mehr, nähert sich an manchen Stellen sogar heraushörbaren Motiven.
Der Dirigent Peter Rundel sah seine Musiker nur aus der Ferne, stand er doch allein vorn am Dirigentenpult, weil er ja auch noch das singende Personal betreuen musste. Die Musiker, die nicht nur ihre Instrumente, sondern auch ihre Stimmen einsetzten, saßen auf einem Podium hinter den Sängern, in ungewöhnlicher Aufstellung: Der Kontrabassist vorn genau in der Mitte, daneben die Holzbläser; auffällig der Tubist mit seinen riesigen Dämpfern. Immerhin kamen sie dem Dirigenten gegen Schluss näher, denn das Podest mit den Musikern wurde nach vorne gerollt, wobei diese, in der Mode der 60er Jahre, die Damen mit hochtoupierten Frisuren, sogar aktiv in das Bühnengeschehen eingriffen. Der Schlussakkord war ein Geräusch: Ein „Plopp“ auf den Punkt, mit Zeigefinger und Lippen produziert.
Wie gehen nun Regisseur (Thierry Bruehl), Bühnenbildner (Bart Wigger, Tal Shacham) und Kostümbildnerin (Wiebke Schlüter) mit der Forderung um, comicnah zu arbeiten? Dazu haben sich die vier etliches einfallen lassen. Viele kurze Szenen folgen direkt aufeinander, wechseln sich nur gelegentlich mit längeren ab. Entweder wird mit Lichtwechseln gearbeitet, oder das Bühnenbild hilft, das aus zwei panels besteht, also Zimmerwänden, die einzeln oder zusammen hochgezogen oder abgesenkt werden können. Auch vor den panels ist noch Platz. Dieses Mittel garantiert das Gelingen der schnellen Wechsel. Jede auch noch so kurze Szene, gewinnt eigenen Charakter durch angemessenes Agieren, charakteristische Gegenstände und Kostüme. Ein schönes Beispiel dafür ist das Zusammensein von Neimann und Mona Zwanzig in Valerians Wohnzimmer, mit Haschpflanzen im Hintergrund, einer geblümten Couch und andersfarbig geblümten Bademänteln (wird hier Willy Deckers Salzburger Traviata-Inszenierung zitiert?). Eine weitere Ebene bilden die Videosequenzen (Philippe Bruehl), die mit Comic und Zeichentrick arbeiten. Mit einem solchen Film (der Fenstersturz!) beginnt auch das Stück. So ergänzen sich farben- und ideenreiche Inszenierung, die einmal sogar Stroboskoplicht einsetzt, mit ständig wechselnden Bildern und fantasiereichen Kostümen, man sieht u.a. auf dem Rücken fliegende Schmetterlinge und einen halbnackten Weihnachtsmann. Besonders gelungen war das Kostüm des Papstes Probstenloch mit Glatze und hervorblitzender goldener Unterhose.
Bewundernswert war schon die Gedächtnisleistung der Sänger, die jede Menge Text (die Partitur ist fast 700 Seiten lang!) verständlich über die Rampe bringen und dazu noch das Charakteristische ihrer Personen darstellen mussten. Das gelang ausnehmend gut. Olaf Haye und Andreas Jankowitsch als doppelter Neimann glichen sich nicht nur in Figur und Kostüm, sondern sogar im Timbre ihrer Stimmen. Während Uta Christina Georg, Michaela Mehring und Dorathea Brandt im wesentlichen nur jeweils eine Person verkörperten, hatten Annika Boos, Joslyn Rechter, Christian Sturm (u.a. die Paraderolle als Papst), Martin Ohu (wahrscheinlich der schwärzeste Bass des bergischen Landes) und Katharina Greiß mehrere Rollen auszufüllen.
Und die Handlung? Unmöglich, diese hier auch nur anzudeuten. Die Handlung im Programmheft kann zwar als grobe Stütze dienen, im Opernhaus entfaltet sich die musikalische Bildgeschichte aber auf eigene, eigenwillige und originelle Art. Der sollte man so entspannt wie möglich folgen. Es gibt einiges zu sehen: Neimann, die Hauptperson, kommt doppelt vor, erst abwechselnd, dann sogar gleichzeitig; Bademäntel, Zwangsjacken, Frauen mit Bart und Männerstimme, einen Apparat namens Ganghofer (ein Apparat zur zeitweisen Materialisierung von Wunschwesen, der aber selten funktioniert), die Identität vieler Personen wechselt (gegen Ende des Stücks will Neimann mit den Worten „Neterer heiß ich, und Neterer bin ich“ Neterer werden und verfremdet dabei Wagners Walküre, in der Siegmund singt „Siegmund heiß ich, und Siegmund bin ich“), Peking-Enten treten auf, Ratten werden in Badewannen gelegt, in die dann Menschen steigen, Neimann fährt vom „Hugo-Ball-Dampfraketen-Bahnhof“ ab, und telefoniert wird mit Revolvern. Genial die Idee, durch Umwandlung in einen Brotaufstrich die chinesische Mauer zu überwinden.
Also: Wer eben kann, sollte hingehen, in eine der wenigen Aufführungen. Es gibt viel zum Hören, Sehen, Genießen, Nachdenken, Diskutieren.
Ein neues Musiktheaterstück ist immer ein Risiko. Der begeisterte Beifall nach der Premiere zeigte aber, dass das Experiment gelungen ist. Das ist gut für Wuppertal und sein Opernhaus, denn eine gelungene Uraufführung findet nicht nur in Deutschland Beachtung, sondern europaweit. Man kann gespannt sein, ob und wie der neue Opernchef, der ja bekanntlich möchte, dass sogar weltweit vom Wuppertaler Opernhaus gesprochen wird, sich zu seinen Plänen bisher noch nicht öffentlich geäußert hat, dies fortführen oder gar toppen will.
Fritz Gerwinn
Weitere Aufführungen: 13., 15. Februar, 7., 30. M