Everest-Drama im Zauberberg
„Everest“, Oper in einem Akt von Joby Talbot
Europäische Erstaufführung im theaterhagen
Premiere am 5. Mai 2018
Was Oper angeht, ist am theaterhagen einiges los. Am 5. Mai stand sogar eine europäische Erstaufführung an: die Oper „Everest“ des englischen Komponisten Joby Talbot (*1971), 2015 in Dallas uraufgeführt. Obwohl ihr von Kritikern bescheinigt wurde, dass ihr ein bleibender Platz im Opernrepertoire sicher sei, wurde sie seitdem in Europa noch nicht aufgeführt. Jetzt endlich, Hagen sei Dank. Das Theater hatte sogar den Komponisten eingeladen, der sich eine Stunde vor Beginn vorstellte und locker und gutgelaunt über seine Musik und seine Oper erzählte (übrigens von der Dramaturgin Corinna Jarosch hervorragend übersetzt und zusammengefasst). Das Interview war so anregend, dass zwischen seinem Ende und dem Beginn der Oper gerade mal fünf Minuten Zeit blieb.
Der Vorhang hebt sich unendlich langsam, nur ein einziges Radio plärrt, ehe sich einzelne tiefe Töne der Bläser dazumischen. Ungefähr zwanzig Personen – der Hagener Chor – sitzen, mit dem Rücken zum Publikum, in Rollstühlen und blicken durch die Fenster auf ein Bild des Mount Everest (Video: Bibi Abel). Kleider und Rollstühle scheinen aus den 20er Jahren zu stammen. Die Idee des Regieteams (Johannes Erath, Regie, Kaspar Glarner, Bühne und Kostüme), im Interview schon angedeutet und im Programmheft weiter ausgeführt: Es besteht eine Verbindung zwischen dem Mount Everest als ein besonderer Berg, 1924 zum ersten Mal fast bestiegen, und dem Roman „Der Zauberberg“ von Thomas Mann, 1924 erschienen. Abgeschlossene, fast klaustrophobische Situationen nicht nur in dem von Mann beschriebenen Sanatorium, sondern auch in dem in der Oper erzählten Ereignis, das 1996 stattgefunden hat. Die Insassen des Sanatoriums von 1924 spielen und erzählen also die Geschichte von 1996, heben sie damit ins Zeitlose. Es geht nicht um ein Dokudrama in klirrender Kälte, - der Mount Everest steht nur als Modell in einem Glaskasten auf der Bühne -sondern um die Darstellung des Inneren der Protagonisten, die von Anfang an auf der Bühne sind und meist auch dort bleiben. Die Rollstühle dienen als Zeichen, klar ist, dass die Menschen sich auch daraus erheben können und sogar tanzen, ein Rollstuhl bleibt lange auf der Seite liegen und dreht sich unablässig. Der Chor, den man auch als Kommentar aus dem Off begreifen könnte, ist in dieser Inszenierung fast ständig szenisch beteiligt, auf der Bühne oder im 1. Rang.
Die Story selbst ist schnell erzählt: Drei Männer sind zum Gipfel des Everest aufgebrochen, der Bergführer Rob Hall mit den beiden Männern Doug Hansen und Beck Weathers, die beide je 65000 Dollar für die Tour bezahlt haben. Beck muss kurz vor dem Gipfel zurückbleiben, weil er Probleme mit den Augen hat, und soll dort auf die beiden anderen warten, um mit ihnen ins Lager zurückzukehren. Die beiden kommen aber nicht zurück, erreichen zwar den Gipfel, sind aber sehr entkräftet und durch einen Schneesturm von der Rückkehr abgeschnitten. Beide sterben, der Bergführer kann kurz vor seinem Tod noch einmal mit seiner schwangeren Frau ein Telefonat führen, in dem über seine schlimme Lage aber kein Wort fällt, sondern es um den Namen seiner ungeborenen Tochter geht. Beck Weathers halluziniert, kann sich aber schließlich doch retten.
Dies alles wird auf dieser Sanatoriumsbühne erzählt, aber keineswegs chronologisch. Zuerst stehen Rob und Doug im Mittelpunkt, dann folgt Becks Geschichte – in Wirklichkeit passierte beides zur gleichen Zeit. Und Jan, Bobs schwangere Frau, bleibt immer auf der Bühne. Auch rast die Zeit viel schneller als in Wirklichkeit. Die inneren Konflikte der Hauptpersonen werden deutlich. Becks Problematik wird besonders geschärft: Er ist wegen seiner Depressionen zum Extrembergsteiger geworden, sein durch die Krankheit gestörtes Verhältnis zu seiner Familie wird thematisiert, durch eine halluzinierte Szene mit seiner Tochter. Dass hier gespielt wird, das Wie wichtiger ist als das Was, wird auch dadurch klargemacht, dass die Darsteller der in der Geschichte Toten am Ende wieder lebendig sind.
Wie lässt sich so eine Geschichte in Musik umsetzen? Joby Talbot kennt sich in vielen Musikgenres aus, hat Filmmusik geschrieben und sich in Rock- und Popmusik ausprobiert. Entsprechend groß ist sein kompositorisches Repertoire. Es beginnt und endet mit Geräuschen, so hört man zu Beginn nur ein verzerrtes Radio, dazu kommen dann Glissandi der tiefen Bläser und so viel Schlagzeug, dass sogar die Nebenbühnen und die Foyers damit bestückt werden mussten. Dazu kommt auch das gesamte große Orchester. Neben eher dissonanten Passagen arbeitet Talbot vor allem mit tonalen Motiven, die oft wiederholt werden und so an Techniken der Minimal Music denken lassen, die aber immer wieder von neuen überraschenden Wendungen abgelöst werden. Auffällig sind auch die vorantreibenden, manchmal bedrohlichen Rhythmen. Manches, vor allem der Gesang der Solisten und des Chors, orientiert sich aber zumindest grob an klassischen Elementen, ist weitgehend tonal nachvollziehbar, erinnert manchmal sogar an „klassische“ Rezitative. Und schließlich gibt es einmal sogar ein Quartett der vier Hauptpersonen vor dem Vorhang. Besonders achten sollte man auf die Terzen-und Sextenseligkeit beim finalen Telefongespräch zwischen Jan und Rob; die romantische Süßlichkeit verschärft hier das Nicht-Erkennen-Wollen der Situation. Insgesamt behauptet die Musik ihre Eigenständigkeit, beschränkt sich keineswegs auf pure Illustration, die Verfremdungseffekte der Handlung finden sich auch in der Musik wieder. Die Musik ist gut anzuhören, überfordert nicht, etwa durch geballte Dissonanzen. Aufmerksames Zuhören ist aber nötig und steigert den Genuss.
Dass in Hagen nicht nur solide, sondern exzellent musiziert und gesungen wird, habe ich schon oft erlebt. Das gilt für das hervorragend geprobte Orchester unter dem GMD Joseph Trafton, das die Intentionen des Komponisten absolut professionell umsetzte. Der sehr beschäftigte Chor (Leitung Wolfgang Müller-Salow) wurde nicht nur wegen seiner musikalischen Leistungen, sondern auch wegen seines szenischen Einsatzes heftig beklatscht. Nur zwei Gäste hatte man für diese Aufführung engagieren müssen: Musa Nkuna als Rob Hall leuchtete seine Rolle sehr wortverständlich mit sonorem Timbre aus, und Morgan Moody als Beck Weathers bewältigte seine Partie mit biegsamer Stimmführung. Dazu kamen die bewährten Kräfte des Hagener Ensembles, Kenneth Mattice, der den Zusammenbruch Doug Hansens nicht nur durch seine Körpersprache, sondern auch durch seine Stimme eindringlich interpretierte, und schließlich Veronika Haller als Rob Halls schwangere Frau, die besonders bei den hohen Tönen brillierte. Bei den kleineren Rollen fiel Sebastian Joest durch seinen profunden Bass besonders auf.
Die 75 Minuten dauernde Oper wurde nicht nur beklatscht, sondern in der Premiere sogar heftig bejubelt. Der anwesende Komponist konnte sich über eine intelligente und kompetente Umsetzung seines Werks freuen. Das Hagener Theater hat wieder einmal gezeigt, wozu es fähig ist.
Fritz Gerwinn, 7.5.2018
Weitere Aufführungen: 18.5., 1.6., 8.6., 21.6., 27.6., 1.7.2018