Party in Hagen

Jacques Offenbachs Pariser Leben im theaterHagen

Grandiose Eröffnung des Offenbach Jahres

 

Premiere am 27.10.2018

 

Was ist typisch französisch? Ein Croissant, das raucht und ständig um Feuer bittet! So war das jedenfalls in Hagen als running gag. Es gab viel zu lachen in dieser wunderbaren Aufführung von „Pariser Leben“ von Jacques Offenbach, ohne dass der ernstere Hintergrund verloren ging.

 

Hatte man vorher das „Pariser Leben“ von Offenbach gegoogelt, blieb man etwas ratlos zurück angesichts der verzwickten und schwergängigen Handlung mit unmotivierten Aktionen und Schauplatzwechseln. Umso mehr kann man über die neue Textfassung des Regisseurs Holger Potocki freuen, der das Stück gründlich entrümpelt und modernisiert hatte. Pariser Leben spielt in der Gegenwart, nimmt aber Offenbachs Tendenz auf, am Mythos von Paris als „Stadt der Liebe“ zu kratzen, und setzt mit intelligenten Dialogen und viel Wortwitz noch einen drauf. Und als Regisseur gelingt es ihm auch, seine Texte gestisch und mimisch umzusetzen, und das bis in die letzte Kleinigkeit und zum großen Vergnügen des Publikums. Dabei kann er sich auf das Hagener Ensemble verlassen, das seine Ideen mit hohem Engagement und größter Spielfreude auf die Bühne brachte. Nicht nur die Solisten, auch Chormitglieder und Statisten können sprechen, singen und tanzen und sind in jeder Hinsicht bewundernswert.

 

Was Potocki geändert hat? Alles spielt in aktueller Zeit, es gibt Smartphones, das schwedische adlige Ehepaar von Gondremark landet in einer der finstersten Ecken von Paris, in einer sozialen Schicht, die ihnen fremd ist und mit denen der Umgang schwer ist, alles „Ureinwohner“, die die vielen Touristen eher stören und die sie gerne ausnehmen. Auf der Party, die für den Baron arrangiert wird, füllt sich plötzlich und zur Überraschung der wenigen vorgesehenen Gäste der Saal, weil der verantwortliche Pariser eine Facebookparty mit freiem Eintritt annonciert hat, bei der Alkohol und Schnee in Massen konsumiert werden. Hier und in den anderen Massenszenen erblickt man Menschen aus allen Gesellschaftsschichten, aber auch historische Personen wie z.B. Asterix, ebenso aktuelle wie eine MeToo-Aktivistin und Karl Lagerfeld.

Einige Personen wurden charakterlich umgestrickt, so vor allem die ursprünglich alte und hässliche Madame Quimper-Karadec. Die ist in diesem Fall absolut mannstoll, obwohl sie schon einen hinzuerfundenen Leibwächter ständig zur Verfügung hat, in knapper Lederhose, leichtem Bauchansatz, freiem Oberkörper und kräftigem Sixpack: Gonzo. Der allein reicht ihr aber nicht, weshalb sie auch alle anderen Männer mit unmissverständlichem Ziel bedrängt. Sie wird deutlich herausgestellt, indem ihr sogar ein kleines Ballett mit fünf Gonzos gewidmet wird.

In der letzten Szene ein Querschnitt der Pariser Bevölkerung, z.B. Punks, Menschen in Leder und orientalischer Kleidung, die gemeinsam eine Weinflasche leeren, dann auch Geistliche unterschiedlicher Religionen, die sich offenbar gut verstehen. Dies Bild kommt der Wirklichkeit wohl ziemlich nahe, Multikulti überall, aber auch die möglichen (realen) Probleme damit werden zumindest angedeutet.

 

Zum Regieteam gehörten noch zwei Frauen, die in perfekter Abstimmung mit dem Regisseur in hohem Maße zum Gelingen des Abends beigetragen haben. Zum einen war das Lena Brexendorff, die ein aussagekräftiges und dabei sehr variables Bühnenbild geschaffen hatte. Hinreißend waren ihre Kostümideen. Solisten, Chor, Extrachor und Statisten mussten mit unterschiedlichsten Kostümen versorgt werden, und alles passte bei größter Differenziertheit wunderbar zusammen. Eine große Hilfe muss auch die Choreographin Andrea Danae Kingston gewesen sein, die gemeinsam mit dem Regisseur für die Massenszenen zuständig war. Diese waren ein Genuss, ungefähr 40 Leute bewegten sich quirlig und turbulent auf der Bühne, und trotzdem war alles stimmig.

 

Die Solisten des Hagener Theaters trafen singend, sprechend, mimisch, gestisch genau den satirischen Offenbachton. Unklar, ob man bei Kenneth Mattice als Baron von Gondremark mehr die Stimme oder sein präzises Stolpern im betrunkenen Zustand bewundern sollte. Herrlich auch Gesang und Spiel von Veronika Haller als Baronin und Richard von Gemert als Raoul de Gardefeu, vor allem in der Szene, in der er sie zu Serge Gainsbourgs „Je t`aime“ mit bewusst ungelenken Tanzbewegungen zu betören versucht. Ebenso hervorragend in Form: Maria Klier als Pauline, Boris Leisenheimer als Clochard und Frick, Kristina Larissa Funkenhauser als Metella und Stephan Boving als Gardefeus Freund Bobinet. Auch Marylin Bennett ging voll in ihrer Rolle auf, durfte dann auch noch Vernon Dukes „April in Paris“ mit Bigbandbegleitung zum Besten geben. Bravourös waren auch die kleineren Rollen besetzt, wohl von Chormitgliedern und anderen Mitarbeitern des Theaters. Von der Sprachfärbung bis zur kleinsten Geste stimmte alles. Besonders achten sollte man im 2. Bild auf den Tanz von Wolfgang Niggel als Urbain im grünen Kleid. Zum Brüllen!

 

Auch über die sängerischen und schauspielerischen Fähigkeiten von Chor und Extrachor lässt sich nur Gutes sagen. Und Rodrogo Tomillo lieferte mit dem Hagener Orchester den perfekten Soundtrack zum Pariser Leben. Manches wurde in so rasantem Tempo gespielt, dass die Übertitelungen dringend notwendig waren. Eingefügt, und das vergrößerte den Spaß an der Vorstellung noch, war aber auch andere Musik, wie „Je t`aime“, eine rockige Gitarre und ein Akkordeontrio. Und bei „April in Paris“ zeigte das Hagener Orchester, dass es auch Bigband kann.

 

Ein wunderbarer Abend, sehr vergnüglich, aber nicht klamaukig, sondern auch mit einigem Tiefgang. Das Publikum wollte die Gesamtheit der Akteure gar nicht mehr von der Bühne lassen.

 

In der Premiere waren neben mir noch einige Plätze frei. Das sollte in den kommenden Aufführungen nicht wieder passieren.

 

Fritz Gerwinn, 28.10.2018