Gelsenkirchen

Leonard Bernstein: On the Town

Premiere am 1.2.1014

Das Musiktheater im Revier hat einen neuen Hit gelandet: Leonard Bernsteins frühes Musical „On the town“, das er 1944 als 26jähriger schrieb. Eine tolle, rasante, musikalisch hochwertige Aufführung, die bei der Premiere fast eine Viertelstunde lang bejubelt wurde.

 

Ein älterer Mann sitzt schlafend auf einem Container, wenn das Publikum das Theater betritt. Es ist genau 6 Uhr, als er, der Vorarbeiter einer Gruppe von Hafenarbeitern, von seiner Crew geweckt wird und gleich zu singen anfang“I feel like I´m not out of bed yet”, ein wunderschönes bluesartiges Lied, wie schön es ist, morgens nicht nur im Bett, sondern mit seiner Frau darin zu bleiben. Währenddessen klettern drei etwas derangierte Matrosen in den Container und drei neue heraus. Kein Zweifel, was ihr Hauptziel ist, wenn sie vor ihrem Kriegseinsatz 24 Stunden die Stadt New York erkunden dürfen, die direkt danach in einem schmissigen Song besungen wird.

 

In der Zwischenzeit kann man das geniale Bühnenbild bewundern: lauter groß dimensionierte Koffer, Container, Gepäckstücke, die einmal Wolkenkratzer darstellen können und durch wenige Handgriffe in andere Szenerien verwandelt werden können, in Wohnräume, Bars, Hochhausbalkon oder Imbissstand.

Die drei Matrosen Gabey (Piotr Prochera), Chip (Michael Dahmen) und Ozzie (E. Mark Murphy) machen sich also auf den Weg. Chip und Ozzie gelingt es ohne große Umwege, eine Frau zu finden. Allerdings tun sie fast nichts dazu, sondern sie werden in stürmischer Weise von den Frauen erobert: Hildy (Judith Jakob) und Claire (Dorin Rahardja) sind absolut emanzipiert, ergreifen die Initiative, nehmen sich, was sie brauchen. Und wie! Kaum zu glauben, dass das Stück im Jahre 1944 spielt!

 

Hildy singt zwar „I can cook“ und Claire, obwohl sonst der eher unerotischen Archäologie zugewandt, produziert wunderbar hohe Töne, aber beider Ziel ist sehr eindeutig. Dessen Erreichen wird aber ständig gestört, weil Hildy mit der verschnupften Lucy das Miniappartment teilt und Claire den reichen Richter Pitkin zum Verlobten hat, der aber alles versteht und als Butler in Schürze auch den Sekt mit ihr und ihrem neuen Freund teilt.

 

Diese Szenen laufen zuerst hintereinander, dann simultan ab, verbunden durch herrliche kleine Statistenauftritte mit gelungenen running gags, die aber keineswegs immer gleich bleiben, sondern sich verändern, sich steigern und selbst interessante Geschichten bilden. Es gibt keinen langweiligen Augenblick.

 

Der dritte der Matrosen, Gabey, die heimliche Hauptperson, hat es dagegen nicht so leicht. Er verliebt sich gleich am Anfang im U-Bahnhof in Ivy Smith (Julia Schukowski), die als Miss U-Bahn auf einem Plakat abgebildet ist. Dieses reißt er ab und will sie finden. An dieser Stelle setzt dann eine Traumsequenz ein (davon gibt es mehrere), in der Gabey Ivy als ideale Frau im U-Bahnhof imaginiert. Hier, wie auch an anderen Stellen, erscheint Ivy nicht nur als Sängerschauspielerin, sondern auch als Tänzerin, und das ganze Ballett wird in die Handlung integriert. Hervorragend, wie die Regie Haupthandlung, Ballett und Statisterie verbunden hat. Alles wirkt wie aus einem Guss.

 

Gabey findet Ivy schließlich in der Carnegie-Hall wieder, als Gesangsschülerin von Madame Dilly (Noriko Ogawa-Yatake), die ständig Schnaps trinkt, ihre Schülerinnen in unmöglichen Stellungen singen lässt und sich gegen Ende der Szene sogar verneunfacht (die Damen des Opernchors geben hier auch choreographisch alles!). Gabey sieht Ivy also zum ersten Mal, als diese auf dem Kopf steht und Vokalisen singt. Sie will sich auch gern am Abend mit ihm treffen, dies verhindert aber besagte Madame Dilly, die Ivy zwingt, zu diesem Zeitpunkt ihrem Job als Bauchtänzerin nachzugehen. Beim Treffpunkt taucht also nur Gabey ohne Dame auf. Immerhin haben sich Hildy und Claire netterweise als Ivy verkleidet.

 

So muss der enttäuschte Gabey also aufgemuntert werden, und zwar durch einen Bummel durch die New Yorker Bars. Erste Station nach der Pause ist Diamond´s Eddies, zweite das Conga Cabana. In beiden wird vom Conferencier in der gleichen schmierigen Weise der „Star von Morgen“ (Betty Garcés mit bluesbetonter Stimme) angekündigt, in beiden singt sie fröhlich dasselbe traurige Lied, einmal im Swingstil, einmal spanisch-lateinamerikanisch. Die an sich schon sehr wirkungsvollen Gegensätze werden zum großen Vergnügen des Publikums herrlich inszeniert. Erst danach erfährt der immer deprimierter werdende Gabey, wo Ivy auf Coney Island als Bauchtänzerin arbeitet, und zwar von Madame Dilly, auch wenn die ebenfalls ein trauriges Lied singt. Hier wieder ein sehr schöner Einfall der Regie: Sie wird hier nur vom Klavier begleitet, und wer spielt das? Natürlich Nikolai Miassojedow, der ganz am Anfang als Vorarbeiter gern mit seiner Frau im Bett geblieben wäre.

 

Gabey Fahrt nach Coney Island ist wieder eine Traumsequenz mit Ballett, die Deutungsmöglichkeiten offen lässt. Die Tänzerinnen und Tänzer erscheinen zuerst in weißen Mänteln mit Pelz, dann in immer leichterer Kleidung, verhindern inner wieder, dass Gabey Ivy erreicht. Als Kontrast dazu ein sich aus einer Soloarie entwickelndes wunderschönes Quartett der beiden anderen Paare, die in der nächsten U-Bahn Gabey nachfahren.

 

Vor dem großen Showdown im Bauchtanzschuppen gibt Richter Pitkin (Joachim Gabriel Maaß, der seine sehr markante Stimme gekonnt dem Weichei-Charakter seiner Rolle entgegensetzt), der Claire gefolgt ist, aber immer nur bezahlen durfte, sein Verständnis für ihre Eskapaden auf und bändelt mit Lucy an, die ihrer Freundin Hildy gefolgt ist (Birgit Brüsselmanns, die nicht nur schön singen, sondern auch rhythmisch niesen kann). Das Geschehen in dieser Bar ist der Höhepunkt des Stückes, alle Beteiligten geben ihr Bestes, von den Sängern über das Ballett bis zur Statisterie.

Der Schluss ähnelt dem Anfang: Drei neue Matrosen kommen, drei verabschieden sich. Jetzt haben sich zwar drei Paare gefunden, aber was wird bleiben?

 

Fast drei Stunden dauert das Ganze und ist absolut kurzweilig. Das liegt auch am Chor (Christian Jeub), der nicht nur gut singt, sondern sich intensiv am Bühnengeschehen beteiligt, und an dem großartigen Orchester, der Neuen Philharmonie Westfalen unter Rasmus Baumann, das die sorgsam ausgehörten Harmonien Bernsteins bestechend spielt, mit massiven Blechbläserattacken, jazzigen Phrasierungen und bei vielen Soli exzellentem dirty play. Aber auch die eher symphonischen Passagen gelingen sehr gut und überdecken an keiner Stelle die frei und sicher singenden Solisten.

Das Publikum war begeistert. Viel Beifall für die Sänger, noch mehr für das Ballett im Revier (Choreographie Bridget Breiner) und das Regieteam (Regie: Carsten Kirchmeier, Bühne: Jochen Kirner, Kostüme: Renée Listerdal).

Eine tolle Gemeinschaftsleistung des MiR mit Tempo, Ironie, Komik, Groteske und vielem mehr, so viel, dass sogar ein zweimaliger Besuch zu empfehlen ist, um die unendlichen vielen liebevoll ausgearbeiteten Feinheiten genießen zu können.

 

Fritz Gerwinn

Weitere Aufführungen: 8., 9., 14., 16., 20., 23. Februar

1., 2., 3., 7., 9., 16. März, 27. April, 7. Mai, 1. Juni