Musiktheater Im Revier Gelsenkirchen
Don Quichotte, Oper von Jules MassenetRegie: Elisabeth Stöppler
Premiere: 7. Dezember 2013
In der Pause hörte man öfters das Wort „Verwirrend“. Das stimmte auch bis dahin, doch danach fokussierte sich die Aufführung, die Inszenierung von Elisabeth Stöppler wurde einkanaliger bis zum berührenden Schluss.
Eins wurde deutlich: Die eigentliche Geschichte wurde im ersten Teil nur am Rande erzählt: Don Quichotte will die Edelkurtisane Dulcinée inmitten eines ihrer Feste erobern, sie stellt in Aussicht, ihn zu erhören, wenn er ihr von Banditen geraubtes Collier zurückbrächte. Auf der Suche nach den Banditen wird gegen die Windmühlen gekämpft, und Don Quichotte gelingt es tatsächlich, die Räuber zur Rückgabe des Schmuckstücks zu bewegen.
Diese Geschichte wird aber von einer anderen gekreuzt und überlagert, hier sind es die Erinnerungen eines alten Mannes an sein Leben und seine Familie. Offensichtlich wird hier eine seit einigen Jahren neue Tendenz in der Opernregie aufgegriffen, besonders deutlich in wichtigen Inszenierungen von Stefan Herheim und Peter Konwitschny, bei denen die Regisseurin vieles gelernt hat.
Stattdessen: Bevor es richtig losgeht, ein Cellosolo Don Quichottes (mit Bravour gemimt), der als alter Mann in einer recht komfortablen Wohnturm (mit Küche, Toilette, Bibliothek, Fahrrad auf dem Dach) lebt. Hat der Bühnenbildner, Piero Vinciguerra, sich anregen lassen von dem Hochhaus mit den ineinander gedrehten Stockwerken schräg gegenüber vom Theater? Dulcinée ist seine Haushälterin, in die er verliebt ist; er stellt sich vor, sie sei eine edle Frau, mit der er zusammenleben möchte. Deshalb wechselt Dulcinée mehrfach ihr Outfit: als Haushälterin trägt sie T-Shirt und Jeans, in den Träumen Don Quichottes festliche Ballkleider.
Don Quichotte ist offensichtlich am Ende seines Lebens angekommen und lässt die einzelnen Stationen an sich vorüber ziehen, oder besser gesagt, sie ziehen an ihm vorüber und dringen dabei sogar körperlich, z.B. als ungebetene Menschenmassen, in sein Haus ein. Dabei sind die vier Freier, die sonst hinter Dulcinée her sind und sie ihm streitig machen, seine Geschwister. Vater und Mutter treten als stumme Personen auf. Deutlich wird auch, dass er schon früh ein Außenseiter war. Schon in seiner Familie, alles Musiker, ging es – trotz des Harmonie verkündenden Familienbildes – alles andere als harmonisch zu. Das wird schon im ersten Bild klar, das in mehrere Episoden aufgelöst wird, eigentlich die Werbung Don Quichottes um Dulcinée.
Im zweites Bild, eigentlich der Kampf gegen die Windmühlen, spielen diese keine Rolle. Der Gegner, gegen den man nicht gewinnen kann, ist der Tod des Vaters. Hierbei geht der sonst wenig rücksichtsvolle Sancho Pansa zum ersten Mal fürsorglich mit seinem Herrn um, indem er ihn ins Bett legt und ihn sorgsam zudeckt. Vorher hatte er in einer Art umgedrehter Leporello-Arie in grober Weise noch alle Frauen verdammt. Schon bei seiner Ankunft trifft er auf das gesammelte Entsetzen der Geschwister bei seinem Anblick. Da kehrt er lieber zu seiner Haushälterin zurück, die im Schlussakkord den Staubsauger aufheulen lässt.
Im dritten Bild wird das Collier wiederbeschafft. Dies geschieht tatsächlich, wird aber überlagert von der Beerdigung des Vaters. Die Räuberbande ist die z.T. mit Gehhilfen ausgerüstete Beerdigungsgesellschaft, darunter die immer noch gegen ihn aufgebrachten Geschwister. So wird Abschied genommen, wobei Don Quichotte einmal sogar seine Mutter mit Dulcinée verwechselt. Gegen Ende wird die Gesellschaft mit der Asche des Vaters bestreut, der jedoch dann später, in antiker Unterhose immer wieder erscheint. Sommerlich gekleidete (leichte?) Mädchen machen schließlich der schwarzen Gesellschaft klar, dass das Leben weitergeht.
In diesem ersten Teil ist alles sehr lebensprall dargestellt, es gibt gut inszenierte und choreographierte Massenszenen, die Personen wechseln bei sich fast ständig drehender Bühne unablässig ihre Plätze. Es ist nicht ganz einfach, alles mitzubekommen und direkt einen Zusammenhang herzustellen. Manches ist verwirrend - doch die Vorgänge auf der Bühne bringen – neben dem sinnlichen Genuss – auch das Gehirn in Bewegung. Das spricht für die Inszenierung, schlägt sie doch die Brücke zu dem Publikum. Es wird deutlich, dass jeder Einzelne mit Erinnerungen konfrontiert werden kann. Dies kann kaleidoskopartig geschehen, muss nicht in der richtigen Reihenfolge passieren und ist nicht immer mit Projektionen verbunden.
So kann es passieren, dass einem Don Quichottes Pferd Rosinante entgeht, obwohl dies sogar als Person im Programmheft genannt wird. Wenigstens Sancho Pansas Esel erscheint, wenn auch als Fahrrad in anderer Form. Und es wird darauf geachtet, dass er immer einen Helm aufhat, auch auf dem Weg zur Kneipe. Das passt auch zu seiner modernen Kleidung. Don Quichotte erscheint dagegen in der ersten Halbzeit nur in Schlafanzug und Bademantel, in einer Episode trägt er sogar Dulcinées Putzkittel.
Im zweiten Teil ist vieles anders: Die Bühne dreht sich nur noch am Anfang, die Handlung fokussiert sich und wird eindimensionaler. Während Dulcinée am Anfang mit Sancho Pansa turtelt, ihn dann aber brüsk zurückstößt, erscheint der gesamte Chor als berühmte bis berüchtigte Menschen aus dem 20. Jahrhundert (hier hatte der Frank Lichtenberg, der Kostümbildner, besonders viel zu tun). Das geht von Mutter Teresa über die Beatles bis zu Janis Joplin, Adolf Hitler dreht ruhelos seine Runden, Fidel Castro redet und Che schwenkt die rote Fahne. Ist das nur ein Gag, oder ein Hinweis auf ein kollektives Gedächtnis? Man erinnert sich ja schließlich nicht nur an seine eigenen Erlebnisse, sondern auch an viele Menschen, die einem etwas bedeuteten oder mit denen man sich auseinandergesetzt hat.
Don Quichotte erscheint im weißen Anzug und hat auch für Sancho Pansa einen festlichen Anzug mitgebracht. Seine Werbung geht jedoch schief. Angesichts der abgrundtiefen Enttäuschung Quichottes entschuldigt sich Dulcinée, nachdem sie ihre Festrobe auf offener Bühne ausgezogen hat. Darunter erscheint ihr Haushälterinnen-Outfit. Sancho Pansa rettet ihn vor seiner immer noch streitsüchtigen Familie, von der einer schon an Krücken geht. Das turmartige Haus verschwindet, und mit ihm erst jetzt der Vater.
In der Sterbeszene stehen nur noch ein Bett auf der Bühne und ein Cellokasten – eine schöne Verbindung zum Anfang und dem wunderbaren Cellosolo vor diesem Bild. Dulcinée bleibt, anders als im Libretto, an seiner Seite, was den Schluss doch etwas versöhnlicher macht.
Die Fokussierung und Reduktion im zweiten Teil erklären und deuten im Nachhinein die kaleidoskopartigen, überreichen und z.T. überfordernden Bilder des ersten Teils, so dass die avancierte Inszenierung von Elisabeth Stöppler insgesamt gesehen doch sehr überzeugt.
Auch die Verbindung zur Musik wurde immer wieder hergestellt, nicht nur in den Cello-Episoden. Das Orchester, die Neue Philharmonie Westfalen, glänzte mit guten Solisten und einem satten Gesamtklang, wurde auch vom Dirigenten Valtteri Rauhalammi an Stellen, wo nicht ein Solist begleitet werden musste, lautstärkemäßig bravourös freigelassen. Viel Beifall für ihn, sein Orchester und die Solisten: Krzysztof Borysiewicz als Don Quichotte, Almuth Herbst als Dulcinée, Joachim Gabriel Maaß als Sancho Pansa, sicher nicht nur für ihre tollen Leistungen an diesem Abend, sondern als Teil eines schon lange und gut zusammenarbeitenden Ensembles. Sängerisch und darstellerisch ebenso überzeugend die vier Freier als Geschwister: Dorin Rahardja, Anke Sieloff, Michael Dahmen und William Saetre.
Viel beklatscht wurde auch der Chor (Einstudierung Christian Jeub), der trotz vielfältiger Aktionen auch den Gesang stets richtig über die Rampe brachte.
Fritz Gerwinn
Weitere Vorstellungen: 12., 20., 28. Dezember 2013, 12., 25. Januar, 2., 7.,15. Februar 2014