Massenets „Werther“ im Wuppertaler Opernhaus
Premiere der Neueinstudierung am 2. Oktober 2022
Für seine letzte Wuppertaler Saison hat Opernintendant Berthold Schneider einige Highlights aus seinen hier verbrachten Jahren ausgewählt, die neu einstudiert wurden. Das erste dieser Stücke,
Jules Massenets Oper „Werther“, hatte am 2. Oktober Premiere, geht aber nur noch einmal, am 29.10.22, über die Bühne.
Aufgeführt wurde die Oper konzertant, also mit Solisten Dirigent, Orchester auf der Bühne des Opernhauses, allerdings ergänzt und verwoben mit dezenter szenischer Konzeption und Videos. Wie schon
2018 gab es großen Beifall, standing ovations am Schluss im leider nicht voll besetzten Opernhaus. Das zeigte, dass dies Konzept keineswegs ein Notbehelf war, sondern sich als absolut stimmig
erwies.
Über dem Orchester hing eine große Projektionsfläche. Schon beim Eintritt und auch nach der Pause war dort jeweils ein Zitat auf altertümlichem Briefpapier aus dem zugrunde liegenden Roman
Goethes zu lesen. „Ja wohl bin ich nur ein Wanderer, ein Waller auf der Erde! Seid ihr denn mehr?" verdeutlichte schon am Anfang die Thematik. Und das Zitat „Musste denn das so sein, dass das,
was des Menschen Glückseligkeit macht, wieder die Quelle seines Elends wurde." präzisierte noch einmal haarscharf, um was es ging. Dies wurde dann jeweils abgelöst durch Videos, die die Handlung
begleiteten und kommentierten.
Als Johannes Witt, 1. Kapellmeister der Wuppertaler Oper, vor das vollbesetzte Orchester trat, wurde der Saal dann auch verdunkelt, und auf der Leinwand erschien in antikem Bilderrahmen zuerst
eine Wiese im Frühling, ein Baum wurde langsam heran gezoomt, blieb immer Mittelpunkt des Bildes, allerdings in unterschiedlichen Erscheinungsformen, und spiegelte nicht nur die Jahreszeiten,
sondern auch die Seelenzustände der Protagonisten (Videos: fettfilm).
Wenn die Personen in der Oper auf der Bühne auftraten, erschienen sie auch vor dem Orchester, sangen nicht nur, sondern machten auch die Handlung in Gestik und Mimik klar (szenische Konzeption
Karin Kotzbauer-Bode). Dadurch zeigten sich auch die Vorzüge des gewählten Konzeptes. Denn von wenigen Szenen abgesehen, in denen etwas auf der Bühne passiert, besteht die Oper aus längeren
Monologen und Duetten, die das Innenleben der Personen nach außen tragen, und zwischendurch und auch in längeren Passagen ist das Orchester Träger der inneren Geschehnisse. Die Leiden und Freuden
der handelnden Personen werden intensiv als von der Musik bestimmtes Kammerspiel in den Mittelpunkt gestellt, so dass vor allem die Rolle des Orchesters in dieser Aufführung im Fokus stand. Unter
Johannes Witts Leitung zeigte das Wuppertaler Orchester in brillanter und nuancenreicher Weise, wie Massenet die Emotionen der handelnden Personen genauestens darstellt. Besonders die
Zerrissenheit der beiden Hauptpersonen Werther und Charlotte finden ihre Entsprechung in der Musik, mit plötzlichen Wendungen, krassen Lautstärkewechseln, harmonischen Kühnheiten, aber auch mit
gut nachvollziehbarer motivischer Arbeit und farbenreicher Instrumentation. Wert legt der Komponist aber auch auf deutlich hörbare Kontraste, so z.B. in den Szenen mit den Saufbrüdern Schmidt und
Johann und bei den Tanzrhythmen am Ende des 1. und 2. Aktes, die einen starken Gegensatz bilden zu den Leiden der Personen. Den allerstärksten dramaturgischen Kontrapunkt gab es am Schluss:
während Werther stirbt, erklingt aus dem Hintergrund, aber laut, ein Weihnachtslied, das in diesem Zusammenhang fast aggressiv-anarchistisch klingt. Diese ganze emotionale Bandbreite wurde vom
Orchester hervorragend umgesetzt. Auch bei Fortissimo-Stellen wurden die Solisten an keiner Stelle vom Orchester überdeckt.
Die Solisten stammen alle aus dem Wuppertaler Ensemble und zeigten sich alle in hervorragender Form. Sangmin Jeon als Werther bewältigte seine umfangreiche Partie grandios, einerseits mit
strahlenden hohen Tönen, andererseits auch in lyrischen Passagen überzeugend und farbenreich. Ihm ebenbürtig war Iris Marie Sojer als Charlotte, die die gesamte emotionale Bandbreite ihrer Rolle
exzellent über die Rampe brachte. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist ihr Kostümwechsel im zweiten Teil. Statt des schwarzen Kleids im ersten Teil trägt sie nun ein rotes, was wohl zeigen
soll, dass sie – anders als bei Goethe – kein abgehobenes engelhaftes Wesen ist, sondern eine liebende Frau aus Fleisch und Blut. Simon Stricker als Charlottes Ehemann Albert überzeugte mit
voluminösem Bariton, zeigte auch darstellerisch die Wandlung zum besitzergreifenden Ehemann gut auf. Ralitsa Ralinova als von Werther verschmähte quirlige Sophie beglückte mit empfindsamer
Gestaltung und klaren hohen Tönen. Auch die kleineren Rollen waren mit Mitgliedern des Wuppertaler Ensembles besetzt, die alle ihre Qualitäten ausspielen konnten.
Die Videos fügten Gesang und Musik eine weitere erklärende Spur hinzu. Auf der Leinwand zeigte sich fast durchgängig ein Baum in sich ändernden Jahreszeiten. Einige Entwicklungen sind aber doch
bemerkenswert: Wird der Baum am Anfang noch von Säulen flankiert (es scheint noch alles in konventioneller Ordnung zu sein), ändert sich dies im Laufe der Handlung. Im zweiten Teil deuten Blicke
auf den kahlen Baum durch ein herangezoomtes vergittertes Fenster Enge und Ausweglosigkeit an. Neben diesem Fenster sieht man das Bild von Charlottes Mutter, mit Häubchen und hochgeschlossenem
Kleid, Ausdruck althergebrachter Traditionen. Schließlich hat sie doch ihrer Tochter auf dem Totenbett das Versprechen abgenommen, Albert zu heiraten, und sie damit in einen starken emotionalen
Konflikt gebracht hat, weil diese doch Werther liebt. Und zwischendurch bewegen sich schemenhafte Gestalten bei angedeuteter Tanzmusik durchs Bild, offenbar Reminiszenzen an den Ball am Anfang,
bei dem Werther und Charlotte sich nähergekommen sind. Schließlich ein Schneetreiben, das aussetzt, wenn Werther und Charlotte klar sehen.
Insgesamt eine hervorragende, sehens- und vor allem hörenswerte Aufführung. Man sollte sich schnell Karten für die einzige noch ausstehende Vorstellung besorgen!
Das Werk geht nur noch am 29.10.2022 über die Bühne.
Fritz Gerwinn, 4.10.2022