Hagen

 

Starkes Stück zum Abschied

HK Grubers „Geschichten aus dem Wienerwald“ in der Inszenierung von Norbert Hilchenbach in Hagen


Premiere am 24.6.2017

 

Norbert Hilchenbach, Intendant am theaterhagen seit zehn Jahren, verabschiedet sich am Ende der Saison in den Ruhestand – was das auch immer für einen versierten und aktiven Theatermann bedeuten mag. Und zum Abschied machte er sich selbst und dem Hagener Publikum ein Geschenk: Er inszenierte die „Geschichten aus dem Wienerwald“ von Ödön von Horváth in der Vertonung des anwesenden Komponisten HK Gruber, der auch vor der Premiere im Gespräch Maria Hilchenbachs Fragen zu Leben und Werk witzig und originell beantwortete. Dem scheidenden Intendanten ist nach eigenem Bekunden Horváths Stück immer wieder begegnet und das Motto des Stücks „Nichts gibt so sehr das Gefühl der Unendlichkeit als wie die Dummheit.“ trifft, wie er sagt „damals wie heute den Nagel auf den Kopf“.
Gleichzeitig zeigt die Auswahl des Stückes aber auch seine deutlich erkennbare Handschrift, die das Hagener Theater in den letzten zehn Jahren geprägt hat. Kein bräsiges Stadttheater mit mittelmäßig inszenierten alten Schlachtrössern, sondern intelligentes Regietheater mit vielen neuen und ungewöhnlichen Stücken, mit denen es immer wieder gelang, auch die jüngere Generation ins Theater zu locken. „Klassiker“ wurden neu akzentuiert, dabei hob man aber nie in den Elfenbeinturm ab. Dazu Revuen und Musicals, eine eminente Vielfalt, und all das bei äußerst engen finanziellen Mitteln.

 

Die komplizierte, auf der Bühne aber gut nachvollziehbare Story lässt sich hier nur andeuten. Marianne, eine naive junge Frau, die nichts gelernt hat, weil sie ihrem Vater im Geschäft helfen musste, verweigert sich den überall herrschenden Konventionen, indem sie die ehrliche Entscheidung trifft, mit dem Mann zusammen zu leben, n den sie sich verliebt hat, und nicht den zu heiraten, den man für sie bestimmt hat. Danach geht alles schief, sie wird in brutalster Weise für ihr Verhalten bestraft. Dabei verliert sie auch ihr Gottvertrauen. „Lieber Gott, was hast du mit mir vor?“, fragt sie am Ende des ersten Teils immer wieder. Ganz am Ende, kurz bevor sie zusammenbricht, hat sie die Antwort gefunden: „Du hast mich behandelt wie einen Hund“.
Alle anderen Personen wirken oft wie ferngesteuert: Was so an Bibelworten, Kalendersprüchen, Gemeinplätzen dahergeredet wird, wird ernst genommen, die Sprache der Klischees regiert. Hauptsache, die Fassade der (klein)bürgerlichen und religionsgetränkten Anständigkeit bleibt stehen. Was sich dahinter aber abspielt, wird überdeutlich gemacht: Berechnung, Gier, Geilheit, Brutalität. Oskar, der zuerst abgelehnte Ehemann, schleppt Marianne nach ihrem Zusammenbruch am Schluss einfach ins „Eheglück“ ab: „Du kannst meiner Liebe nicht entgehen.“ Valerie, Mariannes Nachbarin, wird im letzten Akt zur großen Versöhnerin, nachdem sie sich im ersten Akt als mannstoll gezeigt hat: Sogar Mariannes Vater darf sie in einem unbeobachteten Moment kurz besteigen. Mariannes Vater will sich im Maxim unbedingt an „nackerten Weibern“ aufgeilen, kriegt aber die moralische Krise, als er eine davon als seine Tochter erkennt, die aus Geldnot dort arbeiten muss. Die Großmutter ihres Mannes, bei der Marianne ihr Kind abgegeben hat, sorgt dafür, dass es krank wird und stirbt. Und nachdem man das erfahren hat, steckt man sich eine Zigarette an, und die Hände bleiben in den Taschen.

 

Harte Kost. Die Musik, vom Hagener Orchester bravourös umgesetzt, geht präzise darauf ein. HK Gruber geht sogar so weit, Horváth als „Ko-Komponisten“ zu bezeichnen, weil sein Text für ihn schon Musik sei. Obwohl das Stück denselben Titel hat wie ein berühmter Walzer von Johann Strauß, ist jegliche Operettenseligkeit in Form von satten Streicherkantilenen und klangvollen Bläserchorälen ganz fern. Die Musik ist oft scharf und schrill, dissonant bis an die Grenze zum Atonalen, nähert sich dann aber wieder der Tonalität. Diese erklingt aber nie ganz rein, sondern beinhaltet immer wieder Störungen, stellt so häufig einen Subtext zu den Geschehnissen auf der Bühne her. Gleichförmig vorantreibende rhythmische Bewegungen werden wie im Leerlauf verwendet, wenn es auf der Bühne klischeehaft vorbestimmt zugeht. Andererseits gibt es immer wieder plötzliche Pausen, Holpern, Stottern. Das Groteske wird betont, verstärkt die manchmal unfreiwillige Komik der Handlung auf der Bühne. Walzer, Tango, Ragtime werden verwendet und verfremdet, der titelgebende Strauß-Walzer erklingt auf verstimmten Klavier mit Unmengen von Fehlern. Oskars hohle Sprüche werden durch typische Tenorfloskeln entlarvt, und am Anfang des zweiten Teils wird ein bekanntes Wiener Lied durch den Chor regelrecht brutalisiert und dadurch ad absurdum geführt. Trotz des bitteren Ernstes auf der Bühne wirkt vieles witzig, denunziert aber nicht.

 

Diese Musik zu hören, ist anfangs vielleicht etwas anstrengend, wird aber immer mehr zum intellektuellen Vergnügen, weil HK Huber vielschichtig, aber äußerst genau die Musik aus dem Text entwickelt. Die Sprache der Klischees wird also auch musikalisch exzellent umgesetzt. Hierbei bezieht er sich, wie er im Gespräch erzählt, auf den ersten seiner 70 „Hausgötter“, Igor Strawinski. Dessen Kompositionstechniken bilden die Basis von Grubers Musik, werden aber individuell und eigenwillig weiterentwickelt. Das Hagener Orchester hatte an seiner Musik hörbaren Spaß, der ebenfalls scheidende Generalmusikdirektor Florian Ludwig spornte es in seinem letzten Operndirigat in Hagen zu Höchstleistungen an.

 

Was den Gesang angeht, kommen zwei weitere von Grubers Göttern ins Spiel: Hanns Eisler und Kurt Weill. Wie bei ihnen steht der Text absolut im Vordergrund. Er muss vollkommen verständlich sein, und seine Sprachmelodie bildet die Grundlage für die Komposition. „Geburt der Musik aus dem Resonanzraum der Sprache“ (Harders-Wuthenow) wird das im Programmheft genannt, und das erinnert nicht nur an Eisler und Weill, sondern auch an den tschechischen Komponisten Janacek.

 

Dass dies alles gut über die Rampe kam, war vor allem den Solisten zu verdanken, diesmal 15 Sängerinnen und Sänger, z.T. in mehreren Rollen. Das komplette Hagener Ensemble war vertreten, dazu kamen Gäste. Die Hauptrolle der Marianne sang und spielte Jeanette Wernecke hinreißend. Die beiden Männer, mit denen sie zu tun hat und die sich später in einer seltsamen Männerfreundschaft verbünden, werden von Kenneth Mattice (Alfred) und Philipp Werner (Oskar) hervorragend dargestellt. Auch Martin Blasius als Mariannes Vater, der ständig an seinen eigenen Ansprüchen scheitert, überzeugte in jeder Hinsicht, wie auch das gesamte übrige Ensemble. Besonders auffällig war in einer kurzen Partie Keija Xiong als brutaler Metzgergeselle. Auch der Chor zeigte sich wieder in Bestform.

 

Die spannende und sehenswerte Inszenierung von Norbert Hilchenbach wird in der kommenden Saison leider nicht wiederaufgenommen. Sie wird aber noch viermal gespielt: am 5.7., 7.7., 12.7. und 15.7.2017. Dieser 15.7. ist wieder „theaterhagen Tag“, alle Karten zu dieser letzten Vorstellung kosten nur 8 €. Bereits um 18 Uhr stellt sich der Komponist HK Gruber im Theatercafé wieder den Fragen der Dramaturgin Maria Hilchenbach.

 

Wer ein tolles Stück in einer bemerkenswerten Inszenierung sehen will, sollte sich schnell Karten für eine der vier Vorstellungen besorgen.

 

Fritz Gerwinn, 26.6.2017