Foto: Volker Beushausen
Foto: Volker Beushausen

Hagen

Spannendes Musiktheater
Puccinis „La Fanciulla del West“ im Hagener Theater
Premiere am 3. Dezember 2022
Die Musik überfällt einen hart, brutal und extrem laut. Damit ist der Charakter des Stücks schon vorgegeben. „La Fanciulla del West“ spielt in einer Umgebung, die sonst in Opern kaum vorkommt: in einem Goldgräberlager um 1849, während des Goldrausches in Kalifornien. Bis auf eine Ausnahme gibt es nur Männer auf der Bühne, denen man die mühevolle Arbeit ansieht, aber auch ihre Einsamkeit und Enttäuschung, da sie noch wenig oder gar kein Gold gefunden haben und dafür ihre Heimat, ihre Familien verlassen haben und weite Wege gegangen sind. Die Gesamtstimmung ist rau, Aggressionen ufern sehr schnell aus, aber wenn jemand ein sentimentales Lied von der Heimat singt, fließen auch sehr schnell die Tränen. Unter der verrohten Oberfläche kommen unversehens immer wieder zarte Gefühle zum Vorschein. Deutlich im Vordergrund steht das Elend der Männer, das sie mit Alkohol und Glücksspiel zu bekämpfen versuchen.
Und diese Männergesellschaft wird zusammengehalten von einer Frau: Minnie. Unklar bleibt, wie sie dorthin geraten ist. Ganz offensichtlich hat sie in ihrem Leben schon viel Schlimmes erlebt, sich davon aber nicht unterkriegen lassen, ist für alle Männer Schwarm und Respektsperson, verhindert ihr vollständiges Abgleiten. Sie leitet die Kneipe des Lagers, gibt den Männern aber auch rudimentären Religionsunterricht. Schlimm für alle, dass sie am Ende das Lager verlassen muss.
Wie provisorisch das Goldgräberlager angelegt ist, zeigt sich schon am Bühnenbild. Das ist eine löchrige Felswand, die alles umschließt. In diesem engen Terrain wird Gold geschürft, und nach der Arbeit wird das Brett, über das Wasser gegossen wurde, um Gold zu waschen, zur Theke der Kneipe. Dieser klaustrophobischen Enge wird im 2. Akt Minnies Zimmer entgegengesetzt, das wie eine Insel wirkt, obwohl auch dort die Felswand im Hintergrund droht (Bühne und Kostüme: Lena Brexendorff).
Die Männer des Lagers sind am Anfang kaum zu unterscheiden, alle sind extrem ungepflegt und tragen schmutzige Kleider. Puccini gibt aber nach und nach etlichen von ihnen ein deutlicheres Profil, indem er sie jenseits der sehr bewegten Massenszenen durch kürzere Solostellen individuell hervorhebt, so dass sie im dritten Akt doch deutlich zu unterscheiden sind. Die Hagener Sänger dieser Rollen – eine Mischung aus eigenen Kräften und Gästen - nehmen das Angebot des Komponisten in großartiger Weise an, indem sie ihre Soli in besonders charakteristischer Weise nicht nur singen, sondern auch darstellen.
Das tun auch die drei tollen Hauptdarsteller: Da ist zuerst Insu Hwang (aus dem Hagener Ensemble) als Jack Rance zu nennen, der im Lager die Rolle des provisorischen Sheriffs übernommen hat und glaubt, alles würde besser, wenn er Minnie heiraten würde. Hwang stellt diesen nach außen starken Mann, der Minnie auch mit Gewalt erobern möchte, mit markanter, wohlklingender, sicher geführter Stimme hervorragend dar. Susanne Serfling ist Minnie, besticht nicht nur schauspielerisch als Mittelpunkt des Lagers, sondern vor allem durch ihre leuchtende, lyrisch biegsame Stimme. Sie kann sich bei hohen Tönen in großer Lautstärke ebenso auf ihre robusten Stimmbänder verlassen wie Angelos Samartzis, dessen metallische Durchschlagskraft imponiert. Der verkörpert den Banditen Ramerrez unter dem falschen Namen Dick Johnson, in den sich Minnie verliebt und ihn sogar vor dem Galgen rettet.
Und dass die Lautstärke bei diesem aktionsreichen und maximal intensiven Stück hoch ist, kann dann auch nicht verwundern. Bei ausgedehntem Lautstärkenpanorama passen laute Stellen ohnehin zu dieser brutalen Männergesellschaft, ebenso zu den extensiv ausgedrückten Gefühlen in den dargestellten menschlichen Konflikten in dieser (fast) rechtlosen Gesellschaft. Oft müssen sich Sängerin und Sänger also sehr anstrengen, um bei diesen Lautstärkegraden durchzudringen, was aber gut gelingt. Der Lautstärkebereich umfasst aber auch viele lyrische Pianostellen, die dem Hagener Orchester unter GMD Joseph Trafton ausgezeichnet gelingen. Das aktionsreiche Geschehen auf der Bühne führt in der Musik zu ständig wechselnden Gefühlsebenen. Das erzeugt eine dichte, gespannte Atmosphäre.
Kaum ein Komponist lässt die von ihm komponierte Musik so sehr die Handlung bestimmen wie Puccini. Regisseur Holger Potocki hat die Partitur genau gelesen und sie so umgesetzt, dass die Handlung sofort nachvollzogen werden kann – viel besser als in manchen Opernführern. Jede musikalische Geste findet auf der Bühne ihre Entsprechung, auch die Unterschiede der Musik zwischen brutal und zärtlich finden sich in der Bühnenhandlung wieder. Dazu kommen gute Ideen bei der Umsetzung von Details: so ist z.B. der Pokertisch bei dem lebensentscheidenden Pokerspiel zwischen Minnie und Rance der Rücken des verwundeten Banditen Johnson/Ramerrez. Eine neue Nuance hat Potocki aber hinzugefügt: Minnie hat einen Sohn, ganz offenbar aus einer unerfreulichen Begegnung, dessen Schlafzimmer im Keller unter ihrem Zimmer liegt, nur durch eine Falltür zu erreichen. Das passt am Anfang des 2. Aktes ganz gut, weil das Kind im Gespräch von Johnson und Minnie gut miteinbezogen werden kann. Im weiteren Verlauf ist das nicht ganz plausibel, weil ja auch der verwundete Johnson durch die Falltür im Zimmer des Jungen verschwinden muss und nach seiner Entdeckung durch Rance dadurch herausgezogen wird. Wieder nachvollziehbar ist die Rolle des Jungen aber im 3. Akt, wenn Minnie nach der Errettung Johnsons mit diesem und ihrem Jungen das Goldgräberlager verlässt.
Insgesamt: Musiktheater, wie es sein soll, aufwühlend und erschütternd. Großer Beifall.


Fritz Gerwinn, 5.12.2022
Weitere Vorstellungen: 10.12., 21.12., 28. 12., 20.1., 9.2., 11.3.2023