Große Oper!
Verdis „La Traviata“ im Wuppertaler Opernhaus
Premiere am 26.2.2023
Schon nach der ersten Arie Violettas Bravorufe und großer Beifall. Und am Schluss wollte das Publikum gar nicht mehr aufhören zu klatschen. Tatsächlich: ein großer Opernabend!
Alles passte wunderbar zusammen: SängerInnen, Dirigent, Orchester, Regie.
Zuerst die Hauptperson: Violetta Valéry wurde gesungen und dargestellt von Ralitsa Ralinova. Dass bei ihr Gesang und Darstellung eine Einheit bilden, hat sie schon in vielen Rollen bewiesen. Diesmal hatte sie sogar praktisch drei Rollen mit unterschiedlichen sängerischen Anforderungen zu bewältigen, die der freiheitsliebenden Kurtisane im 1. Akt, die sich opfernde liebende Frau im 2. Akt, die Sterbende im 3. Akt. Alle drei Rollen gestaltete sie mit größter Eindringlichkeit, die strahlenden, virtuosen Koloraturen wirkten brillant und unangestrengt, fast noch besser gelangen ihr die leisen und zarten Stellen, mit denen sie ein ganzes Opernhaus fast zum Atemstillstand brachte.
Ihr zur Seite mit ebensolcher Qualität standen ihr Sangmin Jeon als Alfredo und Simon Stricker als Vater Germont. Sangmin Jeon konnte sowohl in den lyrischen Passagen überzeugen, verfügte aber auch über die notwendige metallische Durchschlagskraft, konnte dies gut mit seiner Rolle als etwas linkischer Jüngling verbinden. Simon Stricker als Vater stellte die Wandlung vom selbstgerechten Konservatismus zu menschlicheren Gefühlen in Darstellung und Gesang sehr vielschichtig dar.
Auch die kleineren Rollen gaben in jeder Hinsicht ihr Bestes, ebenso hatten Chor und Extrachor fulminante Auftritte.
Hervorragend war auch das Orchester unter der Leitung von Johannes Witt. Gut in Erinnerung bleibt der hauchzarte Beginn, Witt scheute aber auch klangliche Zuspitzungen nicht. Besonders eindringlich wurde es, wenn beides aufeinandertraf, so z.B. im Finale, wenn Violettas Stimme und die zarten Melodien der Violinen immer wieder von Blechbläserakkorden brutal unterbrochen wurden. So kam ein Großteil der ständigen Spannungsverdichtung bei Verdi aus dem Orchestergraben.
Einen großen Anteil am Erfolg des Abends hatte auch die Regie (Nigel Lowery, auch verantwortlich für Bühne und Kostüme), die dem blanken Ablauf der Handlung noch andere Dimensionen hinzufügte. Gegensatzpaare waren hier einerseits Freiheit und Tod, andererseits Freiheit und gesellschaftliche heuchlerische Konventionen. Das wird schon ganz am Anfang, während der Ouvertüre deutlich: Zuerst schleppt sich ein alter Mann am Stock mühsam über die Bühne, dann kommen etliche Männer in festlicher Kleidung auf die Vorderbühne, begrüßen sich und erwarten, dass sich der Vorhang hebt. Begeistert verfolgen sie dann die Bewegungen eines Schmetterlings auf der Bühne, der aber bald von zwei Männern mit Netz und Messer verfolgt wird und deshalb verschwindet. Dann erst beginnt die Oper.
Dem Schmetterling und dem alten Mann begegnen wir im Verlauf der Oper des Öfteren. Der Schmetterling, der für Freiheit steht, wird von Anfang an mit einem Netz gejagt, dann mit einer Lampe angelockt. Schließlich werden ihm die Flügel abgeschnitten. Und der rauschebärtige alte Mann ist natürlich ein Todesbote, entpuppt sich am Ende aber auch als Violettas Arzt Grenville, in dessen Armen sie stirbt.
Die Freiheit, für die Violetta kämpft, hat aber auch gegen gesellschaftliche Zwänge kaum eine Chance. Diese finden sich wieder in Kleidung und Aktionen des Chores. Alle Frauen tragen aufreizende hinternbetonende Kostüme mit Hütchen, alle gleich, alle Männer sind schwarz gekleidet, haben weiße Haare und sind wie Vampyre geschminkt. Und bei ihren Auftritten wuseln sie nicht etwa durcheinander, sondern singen in steifer Formation, zeigen eine überlebte, formierte Gesellschaft mit starren Moralregeln.
Dass sie - natürlich nur die Männer - diese Moralregeln gerne heuchlerisch umgehen, wird auch gezeigt. Offensichtlich geht es hinter der Bühne ordentlich zur Sache, wenn vorne auf der Bühne aber etwas Sensationelles passiert, kommen sie sogar unvollständig angekleidet, z.T. sogar in rosa Ganzkörperunterhosen, dorthin. Offensichtlich werden Huren wie Violetta freudig benutzt, offiziell und in der Öffentlichkeit aber verdammt. Diese selbstherrliche Haltung wird durch die Kostümierung von Vater Germont noch verstärkt, der im zweiten Akt eine Militäruniform, Zeichen des selbstgerechten Konservatismus, trägt und auch so agiert.
Auch die Rolle der Frau wird in kleineren Episoden deutlich gemacht. So geht der Baron Douphol, der Liebhaber Violettas, bevor sie sich in Alfredo verliebt, mit ihr nicht zärtlich um, sondern brutal, und der Marchese d´Obigny, einer der Festbesucher, wird gegenüber der Gastgeberin Flora ebenso gewalttätig. Kein Wunder, dass diese beiden Frauen immer wieder wie ein Häufchen Elend auf der Unterbühne kauern, fast verschwinden (die Bühne ist in Unter- und Oberbühne geteilt).
Im zweiten Akt spielt Lowery auf die Situation während der Entstehungszeit der Oper an, auch in Italien gab es Mitte des 19. Jahrhundert schon sozialistische Bewegungen. Da werden die Kulissen des Arbeitsraumes einer solchen Bewegung einfach in den Festsaal geschoben, der die Oberbühne bildet. Darin arbeiten Violetta und Alfredo, der sich also in politischer Hinsicht weit von seinem starr konservativen Vater gelöst hat. Diese Phase bleibt für ihn aber eine Episode. Und Violettas Befreiung hat auch nicht geklappt. Erst treten die Dämonen der zurückgelassenen Gesellschaft leibhaftig auf, und dann noch Vater Germont in Militäruniform!
Die Hauptpersonen agieren auch oft in weiter Entfernung voneinander. So verweigert Vater Germont Violetta brüsk die von ihr gewünschte Umarmung, nachdem er sie zum Verzicht auf Alfred aus moralischen Gründen gezwungen hat. Auch im Finale sind die Personen weit voneinander entfernt: Violetta stirbt in den Armen des Doktors/Todes, nicht, wie im Libretto vorgesehen, in Alfredos Armen; der liegt weit weg auf der Unterbühne, auch sein Vater ist weit weg von Violetta.
Eine tolle Aufführung. Volles Haus, und ganz viele junge Leute! Musiktheater für alle, das geht also! Offensichtlich nicht nur mit künstlerisch niederschwelligen Stücken, sondern auch mit den großen Stücken des Kernrepertoires!
Fritz Gerwinn, 28.2.2023
Weitere Aufführungen: 5.3., 2.4., 6.5., 4.6., 11.6., 23.6.2023