Rezensionen

 

Rollenklischees sind ein Thema, mit dem es sich zu beschäftigen lohnt. Wir alle tragen diese – meist unbewusst – in uns. Es ist Zeit, neue Gedanken zuzulassen:

 

Almut Schnerring / Sascha Verlan

DIE ROSA-HELLBLAUE_FALLE

Für eine Kindheit ohne Rollenklischees

 

Verlag Antje Kunstmann GmbH, München 2014

ISBN 978 – 3 – 88897 – 938 – 5

 

Unsere gegenwärtigen Lebensumstände bringen es mit sich, dass – entgegen den ansonsten doch sehr aufgeklärten Zeiten – sich Rollenklischees und damit Zuschreibungen zur Kategorie „männlich“ oder „weiblich“ nicht nur hartnäckig halten, sondern sich immer weiter ausbreiten. Im Namen von oft ausgeprägt ökonomischen Interessen wird uns teuer verkauft, was männlich bzw. weiblich sein soll. Schon die Kleinsten im Kindergarten wissen meist, wie Mädchenschuhe auszusehen haben oder wer „falsch“ gekleidet ist. Das Ringen um persönliche Identität beginnt sehr früh. Die Frage, was angeboren und was anerzogen ist, ist seit Jahren ein Dauerbrenner. Die Autoren – selbst Eltern von drei Kindern – beschreiben sehr lebensnah diesen Alltag. Die Kommunikationswissenschaftlerin und der Literaturwissenschaftler und Journalist  erläutern den Stand der gegenwärtigen Diskussion sehr einprägsam, z.B. beim Gespräch mit dem Hersteller eines speziellen Mädchengetränks: wenn nicht schon von vornherein etwas angelegt wäre, könnte man diesen Umstand ja auch nicht nutzen, um dieses Produkt zu verkaufen. Aber: weshalb muss dann überhaupt eine spezielle Gender-Marketingstrategie konzipiert werden? Es geht den Autoren nicht darum, Schuldzuweisungen hin- und herzuschieben, sondern darum, dass Eltern sich von den vielen Einflüssen einer einengenden Konsumwelt  freimachen  und es so besser schaffen können, in Freiheit für ihre Kinder zu entscheiden und ihnen ermöglichen, multiple Rollen für sich zu entdecken und damit letztlich eine größere  Interessenvielfalt zu entwickeln.

Spielzeugwelten, Pädagogik in Kindergarten und Schule, Medienwelten und  Freizeitverhalten – viele Beispiele für das Entstehen von Rollenbildern sind nicht nur für Eltern oder Großeltern interessant zu lesen und werden hinterfragt.  Damit die gleichberechtigte Erziehung nicht bloß  eine theoretische Übereinkunft in unserer Gesellschaft bleibt, sondern im Dialog erarbeitet wird, muss immer wieder neu ausgehandelt werden.  Dass dieser Dialog nicht über Konfrontation und Abgrenzung geführt wird, ist ein Anliegen dieses Buches. Wir wünschen ihm viele Leser.

 


Veronique Olmi

DAS GLÜCK, WIE ES HÄTTE SEIN KÖNNEN

Erschienen im Verlag Antje Kunstmann, München 2014

ISBN 978-3-88897-927-9, 220 S., € 19,95

Aus dem Französischen übersetzt von Claudia Steinitz

 

Ja, wie hätte das Glück denn sein können, wenn alles anders gekommen wäre? Wenn die Voraussetzungen andere gewesen wären? Wenn vielleicht Ehrlichkeit das Leben bestimmen würde? Und unter welchen Voraussetzungen wäre denn eine solche Ehrlichkeit überhaupt möglich?

Wenn … wenn… wenn… Man kann trefflich darüber nachdenken, wenn man am Schluss angekommen ist. Der Klappentext verspricht eine „amour fou“: Serge ist sechzig, erfolgreich, besitzt alles, was Mann/man sich wünschen kann – eine schöne, 30 Jahre jüngere Frau, mit der er zwei Kinder hat, Geld und Immobilien und offensichtlich auch genug Zeit, um eine andere Seite auszuleben, in die er hineingezogen wird. Er begegnet Suzanne, die nichts von alledem hat, was er seither begehrte. Sie kommt als Klavierstimmerin für den neuen Bösendorfer-Flügel ins Haus, ohne von ihm wahrgenommen zu werden. Aber er ist schockiert, als er sie zum ersten Mal tanzen sieht, weil er erkennt „wie sehr sie lebt, ohne Angst zu haben“. Er findet heraus, wo sie wohnt und fortan beginnt eine Liebe ohne Voraussetzungen. Diese Liebe legt bei beiden lange verschüttete Emotionen frei, Wünsche und Erwartungen bahnen sich ihren Weg ins Bewusstsein. Die Tragödie eines Lebens, die auch zugleich die Tragödie der mit diesem Leben verstrickten Personen ist, wird nach und nach aufgedeckt. Emotionen und Erwartungen müssen in die Waagschale geworfen werden und Entscheidungen werden getroffen. Ein klug geschriebenes Buch, auch spannend ohne ein Krimi zu sein, offen für den eigenen, gedanklichen Abgleich: was wäre denn nun anders gewesen, wenn …

 

21.7.14/GBW

 

Das Beste zum Jubiläum

 

Holger Noltze

 LIEBESTOD

Wagner Verdi Wir

 

Das Jubiläumsjahr – Wagner und Verdis 200. Geburtstag - ist schon weit fortgeschritten. Mir schien es so, als sei Wagner im ersten Halbjahr öfter genannt und gespielt worden. Das scheint ist jetzt zugunsten Verdis zu verlagern, was ja auch passt, weil Wagner im Mai und Verdi im Oktober Geburtstag feiert.

In diesem Jubiläumsjahr sind auch jede Menge Bücher erschienen, einige davon überflüssig, einige mit neuen Erkenntnissen, einige hoch wissenschaftlich, einige eher für interessierte Laien.

Ein Buch ragt aus allen Neuerscheinungen aber besonders heraus, weil es vieles verbindet, sowohl dem Kenner noch neue Erkenntnisse vermittelt als auch dem interessierten Laien viele Türen öffnet und ihn weit in neue Räume gehen lässt, und das nicht in mühsamer Arbeit, sondern in verständigem Genuss.

Gemeint ist „Liebestod“ von Holger Noltze. Bezeichnend der Untertitel: „Wagner Verdi Wir“. Schon hier wird deutlich, dass nicht weit entfernte Titanen in großen Höhen bewundert werden, sondern verhandelt wird, was uns heute noch mit den beiden Komponisten verbindet. In den Worten des Klappentextes: „Eine Einladung an alle, Wagners und Verdis Träume kennenzulernen – und dabei auch die eigenen.“

Holger Noltze ist u.a. Professor für Musik und Medien und Autor etlicher Bücher (z.B. „Die Leichtigkeitslüge. Über Musik, Medien und Komplexität“). Zum ersten Mal von ihm gehört habe ich aber über die Sendung „westarttalk“, meiner Meinung nach die beste Talkrunde im deutschen Fernsehen überhaupt (jeden Sonntag um 11). Hier werden komplexe Themen ausführlich und verständlich diskutiert, mit ausgewiesenen Experten, sehr kontrovers, aber immer sachbezogen und dabei tiefgehend. Es geht nur selten um Musik, sondern um alle möglichen gesellschaftlich relevanten Themen, und Noltze gehört zum Moderatorenteam, und schafft es, wie die anderen, das Gespräch souverän zu leiten und die oft hart aufeinander prallenden Standpunkte in sachgerechter Weise ohne Krawall zur Darstellung zu bringen. Insofern entspricht er mit seinem weiten Horizont dem Diktum des deutschen Komponisten Hanns Eisler in positivem Sinne genau, der gesagt hat. „Wer nur etwas von Musik versteht, versteht auch davon nichts.“

Was macht nun das Besondere dieses Buches aus? Zwei Dinge fallen zuerst auf. Einmal kommt der Autor immer wieder auf „uns“ zurück. Warum hören wir immer noch Wagner und Verdi? Das geht ziemlich weit vorne los und wird immer wieder angesprochen. Und in diesem Zusammenhang sehr wohltuend ist die Behandlung des Biographischen. Wer sich schon mal durch Bücher über Komponisten gewühlt hat, in denen jedes Lebensdetail aufgelistet ist, aber die Werke kaum behandelt werden und deren Bezug zum Leben nicht deutlich wird, kann es nur als angenehm empfinden, wenn Noltze nur dann ausführlicher auf die Biographien eingeht, wo sie die Hintergründe der Werke erhellen und zeigen, was den Komponisten damals und uns noch heute wichtig war und ist.

Der Autor geht der Frage nach, was den beiden Komponisten gemeinsam ist, zeigt aber auch sehr deutlich auf, was sie trennt und welche ganz unterschiedlichen musikalischen Wege sie gehen. Dabei wird z.B. klar, dass Wagner auf „Überwältigung durch Länge“ setzt, aber die Handlungsabläufe ebenso wie die Entwicklung der Gefühle genauestens inszeniert, während Verdi dagegen auf Kürze, Prägnanz, Wahrhaftigkeit, explosive Dramatik setzt.

Dass dies keineswegs immer in gleicher Weise geschieht, aber doch immer in ähnlicher Tendenz, wird an etlichen Werken der beiden Komponisten exemplarisch gezeigt, bei Wagner vor allem am „Fliegenden Holländer“ und „Lohengrin“, bei Verdi am „Nabucco“ und anhand von „La Traviata“. Aber auch viele andere Werke der beiden werden zumindest gestreift und in Hinblick auf das Hauptthema abgeklopft. Dieses Hauptthema, was beide Komponisten verbindet und uns heute wohl auch noch interessiert, ist der „Liebestod“, bei beiden im Mittelpunkt und von ganz verschiedenen Seiten angegangen.

Noltze stellt dies in zwei längeren Kapiteln dar. Einmal geht es um „Aida“, zum anderen um „Tristan und Isolde“. Der Autor analysiert beide Opern ausführlich unter dem Aspekt des Liebestods, dem gemeinsamen Fluchtpunkt. Dabei bringt er das zusammen, was oftmals getrennt erscheint. Fortgang der Handlung, Textanalyse und Bedeutung der Musik werden so verwoben, dass allein schon beim Lesen viele Zusammenhänge hergestellt werden, die vorher nicht deutlich waren. Dies macht dem, der Noten lesen kann, Lust auf das Hören der Werke mit Klavierauszug. Noch wichtiger aber erscheint, dass sich auch dem musikinteressierten Laien durch diese Methode ganz neue Welten erschließen. CD-hörend oder DVD-sehend lässt sich nach der Lektüre jede Szene brillant verfolgen und liefert ein immer dichter werdendes und tiefer gehendes Erkenntnisnetz.

So wird, um nur wenige Beispiele zu nennen, bei Verdis Aida die „blechbewehrte Musik der herrschenden Verhältnisse“ dem „Traum der Liebe, die nicht sein soll“ gegenübergestellt. Radames´ Arie „Holde Aida“ wird aus ihrem Wunschkonzert-Leben befreit, indem klargemacht wird, dass es sich dabei um eine Phantasmagorie handelt. Deutlich gemacht wird unter anderem, dass uns Verdi einerseits Lektionen in Ökonomie und Unmittelbarkeit gibt, andererseits wird nachgewiesen, dass in der Schlussszene die Musik sozusagen in Zeitlupe abläuft, beides geprägt von subtiler Kunst der Übergänge. Dargelegt wird auch, wie Verdis Kunst das Publikum zu Mitleidenden macht. „Wir sind dabei, der eigene Tod könne die Lösung des irdisch Unlösbaren sein.“ Konsequent wird dann auch nachgewiesen, dass Aidas Todesphantasien schon früh im Stück angelegt sind. Schließlich wird dann auch deutlich, dass Verdi die „gnadenlose Herrschaft der Priester“ anklagt, „deren Gesang nicht ägyptisch, sondern katholisch klingt“, und die in der Oper auch das letzte Wort haben.

Ebenso erhellend ist das Kapitel über Wagners Tristan, vor allem deshalb, weil gezeigt wird, wie sich Wagners Schopenhauer-Lektüre („Musik ist unmittelbares Abbild des Willens.“) unmittelbar auf seine Komposition auswirkt, wie sie blitzschlagartig den Hintergrund lieferte für schon konzipierte Musikdramen. So ist der Tristan , der sich vom ersten Moment auf den letzten, den Liebestod zubewegt, für Noltze eine „kontrollierte Kernschmelze“, schon das Vorspiel ein „großer Flow, ein sanft einsetzender, aber massiver Anschlag auf unser Nervensystem.“ Genau beleuchtet er die Schwebezustände des 40minütigen Liebesduetts im 2. Akt, wie die Sprachkunst des feinsten Übergangs ihre Entsprechung in der Musik findet, und das vor dem Schopenhauer-Hintergrund „Das Leben gewinnen, indem man es wegwirft.“ Zusammengefasst: „Die beiden haben nicht Sex, sondern Philosophie.“ Es folgen weitere Betrachtungen zum Hintergrund, zum Text, zur Musik, vor allem aber, wie Wagner es schafft, dass auch wir, wenn wir uns denn darauf einlassen, in dieser Musik ertrinken und versinken können. Der letzte Satz des Kapitels führt uns aber ganz schnell wieder in die Gegenwart zurück. Noltze fragt: „Können wir wieder auftauchen?“

Er hilft dem Leser dabei, indem er noch einmal tiefgehend verhandelt, was uns als Menschen des 21. Jahrhunderts noch am Liebestod interessiert, denn das Aufeinanderprallen von Liebe und Tod war ja vor allem die übliche Finallösung im 19. Jahrhundert. Nur sehr kursorisch kann man die vielfältigen Vorschläge und Ergebnisse wiedergeben. So müsse man z.B. in die Maschinenräume der „Gefühlskraftwerke“ Oper hinab, um zu erkennen, „welche Brennstoffe erhebliche Energien freisetzen, und wie verschieden die Modelle „Verdi“ und „Wagner“ funktionieren.“, und auch in die „Kellergeschosse unserer Gefühle“. Zwei Zitate als notwendigerweise fast unzulässig verkürzte Fazite: „Verdi führt Momente der Klarsicht herbei, traurig aber wahr. …Wagner dagegen ist die Welt, wie sie ist nicht genug.“

Es folgen dann noch ein Kapitel über das, was nach „Aida“ und „Tristan“ noch passierte, so ähnlich wie der Abspann eines Films als „biographische Coda“, und eine sehr informative Zeittafel, in der die Daten der Komponisten denen der „Welt“ gegenübergestellt werden.

Dass dies alles in einer journalistisch ansprechenden, fast spannenden Sprache formuliert ist, erhöht den Wert des Buches noch weiter. Also: Wer ganz viel und in tiefgehender Weise über Verdi, Wagner und die Oper überhaupt erfahren will, sollte dieses Buch lesen. Es ersetzt ein ganzes Regalbrett voller Bücher zum selben Thema.

 

Fritz Gerwinn

 

Holger Noltze

Liebestod

Wagner Verdi Wir

Hoffmann und Campe 2013

ISBN 978-3-455-50262-6

448 Seiten

 

Bethan Roberts

DER LIEBHABER MEINES MANNES

Erschienen 2013 im Verlag Antje Kunstmann GmbH, München

ISBN 978-3-88897-816-6

 

Zwei Menschen lieben den gleichen Mann, eine Frau und ein Mann. In unserer modernen, aufgeklärten Zeit ist das nicht unbedingt ein Aufreger. Der Roman spielt in seinen wesentlichen Teilen aber Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre in England. Homosexualität ist gesellschaftlich geächtet und wird strafrechtlich verfolgt. Die Aufklärung junger Frauen wird vernachlässigt und bleibt häufig dem Zufall überlassen. Und so nimmt das Schicksal von Marion seinen Lauf. Sie verliebt sich unabdingbar in Tom, den älteren Bruder ihrer besten Freundin. Unbeirrt hält sie an dieser Liebe fest. Patrick, Kurator des Museums von Brighton, ist ein intellektueller Schöngeist. Er ist sich absolut im Klaren über die Realität und verhält sich entsprechend vorsichtig. Er muss akzeptieren, dass er Tom mit Marion wird teilen müssen.

Bethan Roberts erzählt die Geschichte dieser drei Menschen in einem schönen Erzählfluss sowohl aus der Sicht von Marion wie auch aus der Sicht von Patrick. Es gibt in dieser Geschichte keine Schuldzuweisungen. Jeder der drei Protagonisten verhält sich nach seinen Möglichkeiten und Erkenntnissen und so nimmt die Lebensgeschichte der drei ihren unerbittlichen Verlauf. Wer geht am Ende wie mit der Wahrheit um?

Gute Unterhaltung und Platz zum Nachdenken sind bei der Lektüre garantiert.

 

21.4.13/GBW

 

Cees Notteboom: SCHIFFSTAGEBUCH

Suhrkamp

283 Seiten, gebunden

ISBN 978-3-518-42227-4

19,90 Euro

 

Schiffstagebuch – Ein Buch von fernen Reisen

„Schiffstagebuch“ ist der jüngste Reisebericht des Niederländers Cees Nooteboom, untermalt mit Bildern von Simone Sassen. Wieder einmal begibt sich Nooteboom mit seiner Erzählung in andere Länder. Wasserwege werden befahren und diese bieten die Grundlage einer vollkommen anderen Reiseerfahrung – die Langsamkeit bestimmt das Reisen. Die Kreuzfahrt birgt aber auch die Gefahr den Orten nicht genügend Aufmerksamkeit entgegenbringen zu können. Das flüssige Element führt Nooteboom in die nördlichste und in die südlichste Stadt der Welt, über Kap Hoorn nach Montevideo, nach Lateinamerika, Südafrika, Australien. Nooteboom vermischt literarisch ferne Welten mit fernen Zeiten. So erfährt der neugierige Leser ebenfalls von Episoden aus der Geschichte der Länder.

Nooteboom erklärt nicht und versucht nicht zu verstehen. Er beobachtet und seine Beobachtungsgabe nimmt uns mit auf seine Reise um die Welt. Seine Neugier steckt an und wir machen uns auf dem Weg zum Hafen und schauen den Schiffen hinterher.

Bitte lesen!

Be-A

 

 

DEINER STIMME SCHATTEN

Zum zwanzigsten Todestag von Rose Ausländer

17. Februar 2008

Grillo Theater Essen

 

Leben und Werk von Rose Ausländer (1901-1988), eine der bedeutensten Lyrikerinnen dieses Jahrhunderts, stellte Helmut Braun im Cafe Central im Grillo Theater in Essen vor. Braun lernte die Dichterin 1975 kennen und wurde ihr langjähriger Vertrauter, Herausgeber ihres Gesamtwerkes, sowie Verleger und Verwalter des literarischen Nachlasses. Ein aufmerksames Publikum verfolgte seinen interessanten Vortrag über die fruchtbare Zusammenarbeit mit der berühmten Lyrikerin. Die beiden Schauspielerinnen, Sabine Osthoff und Katharina Heuser, trugen Gedichte von Rose Ausländer vor und Katharina Desemo begleitete die Veranstaltung am Cello.

 

Braun schilderte viele Details aus dem Leben Rose Ausländers. Dabei erwähnte er auch das anfängliche Misstrauen der Dichterin  ihm gegenüber und ihre recht eigenwillige Persönlichkeit. Es sei ihm aber  relativ schnell gelungen ihr Vertrauen zugewinnen. Immerhin entwickelte sich aus ihrem Zusammentreffen eine Freundschaft, die bis zum Tode Rose Ausländers im Januar 1988 anhielt. Sie empfing ihn wöchentlich, jeden Freitag um 18:45, genau zu dem Zeitpunkt, wenn der Rabbiner das Nelly Sachs Haus

in Düsseldorf besuchte. Es war ein Affront, denn der Rabbiner kam ins Heim um den Sabbat einzuleiten und die anderen Insassen des Heimes nahmen daran teil.

 

Braun zeichnete Lebenslinien und Lebensbrüche der Dichterin nach und erinnerte an ihre Herkunft. Geboren wurde sie in Czernowitz, im früheren österreichischen Kronland Bukowina. Heute gehört die Stadt zur Ukrainischen Republik. Sie wuchs in einem weltoffenen und liberal geprägten jüdischen

Elternhaus auf. Ihre Eltern zählten zu der großen Gruppe von Juden, die sich assimiliert hatten. Sie pflegten die fast zweihundertjährige Sprach- und Literaturtradition und waren integriert in ein deutschsprachiges Kulturleben. Existenziell bestimmend für Rose Ausländer aufi ihrem Lebensweg fuhr Braun weiter fort, seien Emigrationen, Flucht, Ghetto, das Trauma der Shoa, Heimatverlust und Heimatsuche geworden.

 

Nachdem sie einige Jahre in New York gelebt hatte, sei sie Anfang der 50er Jahre nach Europa zurückgekehrt, da sie sich in Amerika nicht Zuhause gefühlt habe. Während ihres Aufenthaltes dort habe sie nur englischsprachig geschrieben.In ihrer Muttersprache zu schreiben,  „Der Sprache der Mörder“ sei ihr lange Zeit nicht möglich gewesen. Erst ab 1956 schrieb sie wieder Gedichte, Kurzprosa und gelegentlich auch Erzählungen in deutscher Sprache. Sie fand eine neue Heimat in Düsseldorf.

 

Immer stärker, so erzählte Braun, zog sie sich in die Isolation zurück, um sich nur noch ihrem Schreiben widmen zu können. Ab 1977 wurde sie bettlägerig, schrieb aber mit ungeheurer Disziplin und Kraftanstrengung weiter. Unerbittlich redigierte sie ihre Gedichte und überprüfte sie in sprachkritischer Hinsicht. Zu diesem Zeitpunkt wurde sie auch in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Sie erhielt zahlreiche Ehrungen und Preise.

 

Ihre über 2200 Gedichte und ein Nachlass von mehr als 20 000 Seiten (Manuskripte, Notizen, etc) gelten als ein Zeugnis dafür, dass Leben und Dichtkunst für Rose Ausländer eine unverwechselbare Einheit bildete. Von der ganz besonderen Sprachfärbung ihrer Gedichte konnten sich auch die Zuhörer

während der Veranstaltung ein Bild machen. Deutlich klangen in den  vorgetragenen Gedichten Fremdheit und Exil, sowie das Unbeschreibbare von Ghetto und Shoa an. Als einzigartig kann der Bilderreichtum ihrer Lyrik bezeichnet werden. Bis zu ihrem Tode führte Rose Ausländer einen

lebendigen Dialog mit dem Wort. Auf den Kontakt mit Menschen verzichtete sie in ihren späteren Lebensjahren, bis auf wenige Ausnahmen.

 (HA-KRU)

 

 

DIE KOMÖDIE DES ALTERNS

Michael Scharang

Suhrkamp Verlag Berlin 2010

ISBN-Nr. 978-3-518-42135-2

 

Man muss sich nicht selbst wiederfinden in diesem meisterhaft geschriebenen Roman, um ihn zu genießen. Das Interesse ist aber sehr schnell bereits im Prolog geweckt: er erzählt über den abgrundtiefen Hass, den zwei Männer im Alter von ca. 60 Jahren einander entgegenbringen – und dies nach einer fast lebenslangen, ebenso tiefen Freundschaft. Wie können zwei Menschen in eine solche Situation geraten?

 

Die zwei Männer sind Zacharias Sarani, der Ägypter, und der österreichische Schriftsteller Heinrich Freudensprung. Gegensätzliche Charaktere, völlig unterschiedliche Lebensweise und –Wege und doch durch tiefe gemeinsame Interessen verbunden pflegen sie 40 Jahre lang freundschaftlichen Kontakt, der plötzlich abbricht – bedingt durch die Entfernung (Sarani lebt in Ägypten, Freudensprung in USA), aber auch durch die Rückschlüsse, die aus den zutage getretenen Sachverhalten gezogen werden. Jeder sieht sich in einem zentralen Punkt seines Lebens verletzt und doch ist genau dieser Umstand dem anderen nicht bekannt. Dennoch: die lange Verbundenheit bewirkt ein „letztes“ Treffen, in dem jeder dem anderen seine Wut und Enttäuschung entgegen schleudern will und nicht zuletzt auch die Schuld am eigenen schlechten Gesundheitszustand dem anderen zuschiebt. Während des Fluges von New York nach Kairo einerseits und dem Warten auf den Ankommenden andererseits wird in langsamen, eindringlichen Schilderungen – quasi in Slowmotion – die wechselseitige Sichtweise entwickelt. Wir nehmen Einblick in den Charakter der beiden Hauptfiguren, wir entdecken ihre verbindenden Ansichten und damit in „linke“ Lebenseinstellungen, ihre gemeinsame Liebe zur Musik und zur deutschen Sprache, etwa wenn der Ägypter über die Windstille sinniert: “jene deutsche Sprache, die er im Alter von zehn Jahren zu lernen begonnen hatte …. wollte offenbar, dass auch die Stille herrscht.“ Wir lesen Betrachtungen über Baukunst und lernen etwas über ägyptische Lebenseinstellungen und politische Verhältnisse. Philosophische Einflechtungen „…wenn er davon sprach, dass Menschen, die unter unerträglichen Bedingungen leben, selbst unerträglich werden…“ (ist das so?) lassen auch innehalten beim Lesen und geben Raum zum Nachdenken.

 

Trotz aller Ernsthaftigkeit ist das alles mit einem Augenzwinkern erzählt und erweist sich letztlich doch als Komödie des Lebens.

 

17.9.10/GBW

 

SO WAS VON DA“ von Tino Hanekamp

Kiepenheuer & Witsch, 14,99 Euro

 

Loser aufgepasst: Superman, James Bond und Asterix sind out. Die Zeit ist reif für Antihelden!

Oskar Wrobel ist der Antiheld in Tino Hanekamps Erstlingswerk „So was von da“. Er ist der klassische Verlierer: Freundin weg, ein Haufen Schulden und Kiez Kalle im Nacken, der seine 10.000 Euro zurückhaben will, möglichst sofort. Wie der Autor selbst,  ist auch sein Antiheld Oskar Nachtclubbetreiber in Hamburg (Hanekamp betreibt das Uebel&Gefährlich).

„So was von da“ ist die Hommage an eine Nacht. Es ist Silvester und die letzte Nacht vor Abriss des Clubs. Es ist die Party vor dem Abgrund. Es ist eine große Portion Leben. Die Protagonisten lassen sich durch eine Nacht voller Überraschungen treiben und genießen jede Pointe, die ihnen diese Nacht entgegenstellt.

Und da jede gute Geschichte auch eine Moral braucht, sei diese hier kurz angerissen: Es ist nicht wichtig, wie häufig man auf die Schnauze fällt. Wichtig ist allein der Rausch des Lebens.

„So was von da“ ist Scheitern mit Stil. Tino Hanekamp ist Schriftsteller mit Beobachtungsgabe. Dieses Buch sollte man unbedingt lesen: Die Protagonisten wachsen einem schon von der ersten Seite an ans Herz und jeder Neue ist willkommen auf der Party im Herzen des Lesers. Die Geschichte ist ein Überraschungseffekt auf 285 Seiten. Schnell, witzig und nie, wirklich nie langweilig. Und morgen ist ein neues Jahr.

 

 

Fabio Geda

IM MEER SCHWIMMEN KROKODILE

Eine wahre Geschichte

aus dem Italienischen übersetzt von Christiane Burckhardt

erschienen 2010 im Albrecht Knaus Verlag, München, 187 S.

 

ISBN 978-3-8135-0404-0

 

Enaiat ist ca. 10 Jahre alt, als ihn seine Mutter aus dem afghanischen Kriegsgebiet nach Quetta/Pakistan bringt und dort allein zurücklässt. Seine Familie gehört zur Volksgruppe der Hazara, die von den Taliban und den Paschtunen bedroht werden, so dass seine Mutter für Enaiat keinen anderen Ausweg sieht, als ihn außer Landes zu bringen. Einfache Leitsätze, die sie ihm mit auf den Weg gibt, sind sein innerer Kompass, denn er muss fortan für sich selbst sorgen. So beginnt eine unglaubliche Geschichte: Enaiat schafft es nicht nur, für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, sondern begibt sich auf die Suche nach dem lebenswerten Leben. Auf dieser Reise muss er die Grausamkeit eines Lebens auf der Flucht erfahren, Hunger und Durst, Verachtung und Ausbeutung der Unterprivilegierten; es gibt aber auch die glücklichen Momente der Begegnung mit Menschen guten Willens. Er nimmt jede Arbeit an, die sich bietet, lernt Menschen einzuschätzen. Nach Jahren erreicht er schließlich Italien, wo er endlich eine Ausbildung erhält, aber auch darum kämpfen muss, als politisch Verfolgter anerkannt zu werden.

 

Der italienische Schriftsteller Fabio Geda ist 1972 in Turin geboren. Er lernt den jungen Afghanen Enaiatollah Akbari durch seine Arbeit mit Flüchtlingsfamilien kennen. Gemeinsam erzählen sie Enaiats Lebensgeschichte, die auch davon handelt, wie ein Mensch trotz ungünstigster Startbedingungen seine Würde bewahrt und dass es sich lohnt, daran zu glauben, dass das Leben immer wieder positive Überraschungen bereit hält, „wenn man immer einen Wunsch vor Augen hat, wie ein Esel eine Karotte, und dass uns erst der Wille, unsere Wünsche wahr zu machen die Kraft gibt, morgens aufzustehen, ja, dass es das Leben lebenswert macht, wenn man nur immer schön seinen Wunsch im Kopf behält“.

 

10.8.11/GBW

 

 

Marie-Sabine Roger: DAS LABYRINTH DER WÖRTER

 Hoffmann und Campe, 208 Seiten.

 ISBN: 3455402542

 

Germain und Margueritte – zwei Charaktere, deren Leben sich im Park kreuzen. Sie zählt Tauben, er auch. Aber das ist auch mitunter die einzige Gemeinsamkeit zwischen den beiden. Margueritte ist eine gebildete alte Dame, Germain dagegen ist nicht gerade der Schlaueste. Dennoch freunden sich die beiden an. Treffen sich immer wieder. Margueritte liest Germain vor und gewinnt ihn so für die Welt der Wörter. Doch auch für Germain bietet sich die Möglichkeit, Margueritte zu helfen…

 

Marie Sabine Roger brachte eine Geschichte mit viel Herz auf’s Papier. Leicht und warmherzig erzählt, ist „das Labyrinth der Wörter“ die geeignete Lektüre für einen Nachmittag am Strand – oder am heimischen Baggersee. Genau das Richtige um mal wieder die Seele baumeln zu lassen – und ganz nebenbei ein Loblied auf das Lesen anzustimmen. (Be-A)

 

 

DER KLAVIERSTIMMER

Bereits 1998 erschienen, aber immer wieder lesenswert:

 

Pascal Mercier

Roman, 509 Seiten, bei btb-Verlag, München,

ISBN 978-3-442-72654-7

 

Ein unbegreifliches Ereignis ist der Grund für ein Wiedersehen der Familie: der Vater, ein anerkannter Klavierstimmer und erfolgloser Opernkomponist, wird als Mörder eines gefeierten Tenors verhaftet. Die erwachsenen Zwillinge eilen nach Berlin zur Mutter. Patricia war vor 6 Jahren nach Paris geflohen, Patrice lebte in Santiago de Chile. Beide flohen vor einer inzestuösen Liebe und begannen jeder für sich ein neues Leben. Sie begegnen sich als inzwischen Erwachsene; die Sprachlosigkeit der früheren Jahre droht sich fortzusetzen, aber in dem Wunsch, sie zu überwinden versuchen sie durch schriftliche Aufzeichnungen über das persönliche Erleben der Kindheits- und Jugendjahre und die neue Sicht auf ihr Leben das Geschehene aufzuarbeiten.

Der Leser erfährt durch das wechselseitige Lesen dieser Aufzeichnungen die weit verzweigte Familiengeschichte und die persönliche Entwicklung der Zwillinge. Er erkennt den Einfluss der teilweise lange zurückliegenden Geschehnisse auf das Leben der Familienmitglieder. Die Tat ist der Kulminationspunkt aller Einflüsse, aber dennoch geht auch danach das Leben weiter.

 

Das alles ist spannend zu lesen, geschrieben in der einfachen und doch von hoher Bildung zeugenden Sprache Merciers. Er hat einen großen Fankreis, insbesondere durch sein 2004 erschienenes Buch „Nachtzug nach Lissabon“. Seine analytischen Fähigkeiten beruhen auf seiner Ausbildung und Tätigkeit als Philosoph mit den Forschungsschwerpunkten Philosophische Psychologie, Erkenntnistheorie und Moralphilosophie. Nur sein literarisches Werk wird unter dem Namen Pascal Mercier veröffentlicht. In seinen Romanen wird immer wieder geradezu akribisch beschrieben, wie die einzelnen Charaktere sich entwickeln und verändern, warum sie sich zu bestimmten Handlungsweisen entschieden haben und wie die handelnden Personen sich gegenseitig beeinflussen. Das alles entspringt einer tiefen Kenntnis über die menschliche Psyche. Dazu gesellt sich das Talent, die Handlungen dramatisch aufzubauen. Das macht auch das vorliegende Buch zu einem großen Leseerlebnis.

 8.6.10 / (GBW)

 

 

Kristof Magnusson: DAS WAR ICH NICHT – 283 Seiten, 19,90 Euro – ISBN 978-3888975820 – Kunstmann-Verlag

Ein international erfolgreicher Autor, eine Literaturübersetzerin und ein junger Banker – das sind die Zutaten des Romans „Das war ich nicht“. Und diese geben dem Lesestoff die richtige Würze. Jasper Lüdemann kommt aus Bochum, naja eigentlich kommt er aus Sprockhövel – aber so genau will das doch keiner wissen. Er ist aus dem Back Office in den Händlersaal bei Rutherford & Gold aufgestiegen – und somit auf dem besten Weg Karriere zu machen. Sentimentalitäten kann er sich dabei nicht leisten, sein Privatleben beschränkt sich auf ein Minimum: Schach im Internet. Henry LaMarck ist ein weltberühmter Schriftsteller und steht kurz vor seinem zweiten Pulitzerpreis. Doch eine Schreibblockade hindert ihn, seinen Jahrhundertroman zu beginnen. Er ist einsam und ihm fehlt die Inspiration bis er eines Tages ein Bild von einem jungen, verzweifelt wirkenden Banker in der Zeitung sieht. Meike Urbanski ist Übersetzerin. Mit den Romanen von Henry LaMarck verdient sie ihren Lebensunterhalt. Mit einem leeren Konto erwartet sie seinen versprochenen Jahrhundertroman. Doch LaMarck liefert nicht. Kurz entschlossen kratzt sie ihr letztes Geld zusammen, um den untergetauchten Schriftsteller in Chicago zu suchen und ihn zur Abgabe des Manuskriptes zu bewegen. Und genau in dieser Stadt kreuzen sich die Lebenswege der drei. Grundverschieden sind sie, doch was alle verbindet: Sie halten den Schein eines gelungenen Lebens aufrecht, obwohl sie sich doch alle längst auf der Flucht vor diesem befinden.

Witzig und klug geschrieben verstrickt Kristof Magnusson in seinem zweiten Roman die Lebenswege dreier grundverschiedener Charaktere. Er erzählt von einem Börsencrash, ausgelöst durch den kleinen Bochumer Banker Jasper Lüdemann – Magnusson geht dieses Thema auf eine erfrischende Art entspannt und komisch an. Kurzweilig ist seine Geschichte und sie vermittelt, dass auch jede große Bankenkrise irgendwann vorbei geht und neue Chancen eröffnet. Am Anfang Verzweiflung – am Ende wird alles gut. Zugegeben, zeitweise sind die Zufälle in „Das war ich nicht“ doch sehr kurios, doch Magnusson erzählt diese so charmant, dass man ihm diese ohne zu hinterfragen abnimmt.

 

 

Nicole Keegan: SCHWIMMEN
Rowohlt, ISBN 9783498035419
19,95€, 480 Seiten

Mit neun Monaten beginnt die Schwimmkarriere von Philomena. Mit den Worten ihrer allerersten Schwimmlehrerin „Lassen wir sie einfach rein. Das wird ihr Leben verändern" hat sie zum ersten Mal Kontakt mit dem flüssigen Element. Anfangs nur eine Notmaßnahme der Eltern, das unruhige und anstrengende Kind zu beruhigen, entwickelt sich das Wasser zu Philomenas Element. Damals ahnt sie noch nichts von ihrer verrückten Familie und von den Schicksalsschlägen, die noch auf sie warten werden, doch sie spürt zu diesem Zeitpunkt schon, dass sie das Schwimmen von nun an begleiten wird; sie sogar bis zur Olympiade führen und sie zu einer achtmaligen Goldmedaillengewinnerin machen wird. Schwimmen zeigte ihr von diesem ersten Augenblick an einen Weg raus aus Kansas, weg von ihrer verkorksten Familie, weg von der Nonnenschule; einen Weg auf dem sie ihre Liebe entdecken wird.

„Schwimmen" ist geprägt von Todesfällen, von Schicksalsschlägen und natürlich vom Schwimmen.

Keegan beschreibt lebhaft und eindrucksvoll die Laufbahn einer Schwimmerin. Die Kämpfe, die es dabei auszutragen gilt, sei es im Training oder in Wettkämpfen werden spannend und wortgewandt aus der Sicht Philomenas erzählt. Leider muten die Leidenswege der Familie, zählt man sie auf, ein bisschen dick aufgetragen an: Schwere Krankheit, Selbstmord, Depression, Drogenprobleme - alles vereint sich in dem Cluster dieser Familie. „Das Leben hat bewiesen, dass ein Unglück nur selten allein kommt". Philomenas Zitat entsprechend ist das Buch somit auch voll Trauer, zeigt aber auch immer wieder Auswege und die Lebensfreude, die man in diesen Auswegen finden kann.

Alles in allem ist „Schwimmen" ein sehr lesenswertes und phantasievolles Buch, das man nicht missen möchte und das den Drang auslöst, immer weiter zu schwimmen. Entschuldigung zu lesen.

 

 

David Safier: PLÖTZLICH SHAKESPEARE
Kindler, ISBN 978-3463405537
320 Seiten, 17,95€

Sonntag Nachmittag, aus der Hand legen kann man es nicht: „Plötzlich Shakespeare" von David Safier. Mit der Warnung an den Leser „Dieses Buch ist in historischer Hinsicht beeindruckend unfundiert" beginnt die Zeitreise von Rosa, 32 Jahre alt, wohnhaft in Düsseldorf. Der Anfang mutet an wie ein Ildiko von Kürthy-Abklatsch: Mann verliebt sich in eine andere, Frau ist am Boden zerstört und flüchtet sich in Schokolade und Alkohol. Doch nach einem verpassten One-Night-Stand-Versuch, gelangt Rosa in die Finger eines Hypnotiseurs, der ihr mit einer Reise in einen früheren Körper, den ihre Seele bewohnt hat, helfen will, die wahre Liebe zu finden. Leider handelt es sich aber bei diesem Körper um den eines Mannes, genauer um den William Shakespeares. Nach anfänglichen Startschwierigkeiten der beiden Charaktere, entwickelt sich eine von Safier wirklich gelungen beschriebene Symbiose zwischen Shakespeare und Rosa. Gemeinsam schreiben sie Sonette, überwinden nicht verarbeitete Lebensphasen und machen ganz nebenbei noch so einige Nahtoderfahrungen.
Mit immer neuen klugen und unerwarteten Wendungen versteht es Safier den Leser in seinen Bann zu ziehen. „Plötzlich Shakespeare" steht seinen zwei Vorgängern „Mieses Karma" und „Jesus liebt mich" in nichts nach. Eigentlich muten die Geschichten Safiers immer wieder aufs Neue so absurd an, das man nicht glauben möchte, dass es funktioniert. Aber genau das tut es. Der im März erschienene Roman „Plötzlich Shakespeare" sollte ebenfalls mit Leichtigkeit die Bestsellerlisten erobern können. Und somit sollte sich die Frage „Lesen oder nicht lesen?" gar nicht erst stellen.

 

 

Alissa Walser
AM ANFANG WAR DIE NACHT MUSIK
Roman, erschienen bei Piper Verlag GmbH, München 2010
ISBN 978-3-492-05361-7

 

Alissa Walser hat drei Jahre an ihrem Romandebüt gearbeitet. Historisch verbürgte Fakten bilden den Handlungsrahmen, trotzdem ist es kein im eigentlichen Sinne historischer Roman. Im Zentrum stehen Franz Anton Mesmer, ein im ausgehenden 18. Jh. berühmt gewordener Arzt, und seine Patientin Maria Theresia von Paradis, Pianistin und Sängerin, als erblindetes Wunderkind ebenfalls berühmt geworden. In der letzten Hoffnung auf Heilung wird sie von ihren Eltern zu Mesmer gebracht, der mit seinen neuen Heilmethoden des Magnetismus Erfolge verzeichnen kann. Beide sind schon oft in der Literatur erwähnt worden. Was könnte also Alissa Walser bewogen haben, diesen Stoff ebenfalls zu verarbeiten?

Bereits 1996 hat sie geäußert, dass ihr Interesse den menschlichen Beziehungen gilt, ihren Entwicklungsmöglichkeiten und Widersprüchen; sie möchte bei ihren Lesern emotional etwas auslösen. Und das gelingt ihr mit diesem Roman: beide, der Arzt und seine Patientin, sind Ausnahmetalente, denen es schwerfällt, ihre Einsichten und Entwicklungen für andere begreiflich zu machen oder gar durchzusetzen. Mit großem Einfühlungsvermögen schildert Alissa Walser die handelnden Personen und den Zeitgeist, der eigenständig denkenden Wissenschaftlern wenig Freiraum lässt und Frauen durch mangelnde Bildung nur geringe Entwicklungsmöglichkeiten bietet. Neues und Ungewöhnliches findet schnell Gegner, ganz besonders dann, wenn - wie im Fall des Arztes Mesmer - die Methoden für wissenschaftliche Erklärungen von den etablierten Größen als ungenügend angesehen werden und erste Erfolge Neid hervorrufen oder wenn - wie im Fall der jungen Künstlerin - der ersehnte Erfolg nur um den Preis des von der Gesellschaft gewünschten Habitus erreichbar scheint. Wie gehen sie mit ihrer Situation um? Was bewegt diese Menschen? Werden sie sich anpassen, ihre Ziele ändern? Diesen Fragen, die auch in heutigen Zeiten gestellt werden, geht Alissa Walser in einer vorsichtigen, elliptischen Sprache nach. Sie lässt uns an den Gedanken der handelnden Personen sehr lebendig teilhaben in einer Sprache, die „das Kino im Kopf" abruft.
(Gisela Baumann-Wagner)

 

 

DEINE JULIETT

Mary Ann Shaffer / Annie Barrows

Roman
Erschienen 2009 als Taschenbuch bei Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg,
ISBN 978 3 499 24593 o

Umschlag und Innenseite verheißen einen bezaubernden Roman, romantisch, Platz 1 der „New York Times - Bestsellerliste" - muss man's also lesen?
Es ist ein Briefroman, der uns vielschichtige Ebenen erfahren lässt. Kurz nach dem zweiten Weltkrieg kommt die Protagonistin des Romans, die 32-jährige im zerbombten London lebende Schriftstellerin Juliet in Kontakt mit Bewohnern der Kanalinsel Guernsey und den Mitgliedern eines literarischen Zirkels mit dem Namen „Freunde von Dichtung und Kartoffelschalenauflauf". Wir lernen auf den ersten ca. 50 Seiten die bisherige Welt von Juliet kennen - und wie es dazu kommt, dass sie sich für die Menschen auf Guernsey zu interessieren beginnt. Sie erhält und schreibt Briefe an viele, sehr unterschiedliche Menschen. Auf diese Weise entsteht für den Leser allmählich das Bild einer jungen Frau und ihrer Entwicklung, er erfährt aber zugleich auch sehr viel über die Zeit der Besatzung durch die deutschen Truppen, von Kollaborateuren, von Not und Unrecht, aber auch von gegenseitigem Verständnis, Mut, Achtung und Zusammenhalt in schwerer Zeit. Wir erleben unmittelbar Situationen mit, die Weinen machen, und Situationen, die urkomisch sind. Mary Ann Shaffer lässt uns Menschen kennenlernen mit allen ihren Stärken und Schwächen; sie erzählt von den Gründen, die Eltern damals veranlasst haben, ihre Kinder ins (hoffentlich) sichere England zu schicken, aber auch davon, wie einfache Menschen mit Literatur in Berührung kommen und lässt uns teilhaben an deren handfesten und von natürlicher Intelligenz geprägten Urteilen, und eben nicht zuletzt auch an der Geschichte von Juliet.
Ein kurzweiliges Buch, Lesevergnügen pur - einmummeln und ein Glas Rotwein dazu!

Gisela Baumann-Wagner

 

 

David Nicholls: ZWEI AN EINEM TAG

 

Verlag: Kein & Aber, 22,90 €.

Der 15. Juli bestimmt den neuen Roman des britischen Autors David Nicholls. An diesem Tag im Jahr 1988 begegnen sich zwei Menschen, die von diesem Zeitpunkt in den Mittelpunkt der Geschichte gestellt werden. Im Laufe der Geschichte wird der 15. Juli der folgenden Jahre im Leben von Emma und Dexter beleuchtet. Die beiden wären das ideale Paar, es scheint aber ihr Schicksal zu sein, dass sich ihre Wege unaufhörlich Jahr für Jahr wieder trennen.

Nach den Vorgängerromanen „Keine weiteren Fragen" und „Ewig Zweiter" ist dies das dritte Buch des ehemaligen Bühnenschauspielers Nicholls. Er erzählt mit viel Gefühl, das sofort auch den Leser infiziert. Auch wenn „Zwei an einem Tag" überwiegend von Gefühl inspiriert ist, so steckt doch hinter dieser Liebesgeschichte eine zum Nachdenken anregende Idee. Diese Königskinder-Geschichte ist auf der Bestenliste des vergangenen Jahres in jedem Fall auf einem der besten Plätze einzuordnen. Wer sie noch bis jetzt noch nicht gelesen hat, sollte dies in diesem Jahr nachholen.( B-A)

 

 

 

Angriff auf die Freiheit. Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte

Sind wir auf dem Weg in einen Überwachungsstaat?

 

Ilija Trojanow und Julie Zeh beschäftigten sich in ihrem Buch mit einer Gefahr die uns allen droht. Wir werden zu einem gläsernen Menschen. Die Autoren warnen vor dem Abbau der bürgerlichen Rechte in einer Zeit, wo Meldungen über grausame Tötungsdelikte uns Tag für Tag aufschrecken und wir angesichts territoaler Bedrohung bereit sind, unsere Freiheit mehr und mehr einschränken zu lassen. Der Sicherheitswahn vieler Menschen führt dazu, dass sie Belauschung und Bespitzelung als Normalität ansehen. Besondere Bedeutung wird in diesem Zusammenhang dem Internet beigemessen. Allzu sorglos hinterlassen hier viele User ihre Daten. Auch Jugendliche sind davon betroffen. Über die Konsequenzen der Nutzung sind sich die Internetbesucher oft nicht im Klaren. Daten können missbräuchlich verwendet werden oder den Nutzern Nachteile bringen, beispielsweise bei Bewerbungen. (Ha-K)

Ilija Trojanow, Juli Zeh, Angriff auf die Freiheit. Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte, Hanser Verlag 2009, 14,90,

  • ISBN-10: 3446234187
  • ISBN-13: 978-3446234185

 

 

DAS GLÜCK IN GLÜCKSFERNEN ZEITEN

Wilhelm Genazino
Roman, 158 S.
Hanser Verlag München 2009
ISBN 978-3-446-23265-5


Der Roman handelt von Gerhard Warlich. Nach äußeren Kriterien lebt er in guten Verhältnissen. Er hat sich zum Geschäftsführer einer Großwäscherei hochgearbeitet, hat eine Partnerin, die zu ihm hält, ihn zu verstehen sucht und auf ihn eingeht. Es will sich allerdings trotzdem keine Lebenszufriedenheit einstellen. Er hat über Heidegger promoviert und seine ursprünglichen Vorstellungen über seine beruflichen Möglichkeiten nach und nach begraben. Geblieben sind ihm seine analytischen Fähigkeiten, die alltägliche Umgebung wahrzunehmen und sein aus der akademischen Ausbildung erwachsenes Anspruchsdenken an sich selbst, dem er aber nicht gerecht werden kann. So analysiert er sich fortwährend selbst ohne eine Möglichkeit zur Problemlösung zu sehen: „….Leute, die ihre Konflikte nicht lösen können, tragen diese in unbearbeiteter Form weiter mit sich herum, als eine Art metaphysische Bestürzung. Seit wenigen Augenblicken weiß ich, dass ich zu diesen bestürzten Menschen gehöre.“ Als seine mitten im Leben stehende Partnerin ihm ihren Kinderwunsch eröffnet, kollidieren seine diffusen Vorstellungen mit der Wirklichkeit. Auch als ihm zudem sein Job gekündigt wird, schafft er es nicht, ihr seine innere Zerrissenheit deutlich zu machen: „Das lebensgeschichtlich tief sitzende Unbehagen, dass ich mich von der Philosophie, der Bildung und meiner Eitelkeit habe narren lassen, ist bis heute zwischen Traudel und mir nicht besprochen worden. Das noch viel tiefer sitzende Problem, dass ich inzwischen von meiner peinigenden Selbstüberschätzung weiß, ist praktisch unaussprechlich.“ So driftet sein Leben immer mehr an den Rand von Normalität. Er wird schließlich von seiner Umgebung als Fall für die Psychiatrie wahrgenommen – für ihn selbst letztlich keine Katastrophe: „Es beruhigt mich, Details zu entdecken, die zwischen mir und den anderen liegen. In der Wahrnehmung dieser Differenz lebt mein Ich.“
Warlichs Geschichte nimmt einen für ihn persönlich versöhnlichen Ausgang; der Leser als Beobachter seines inneren Werdegangs erfährt viel über menschliche/männliche Befindlichkeiten und tiefe, nachvollziehbare Einsichten. Sie sind manchmal auch entgegen den gängigen, oft sehr trivialen Vorstellungen formuliert, aber sie treffen den Leser unmittelbar: „Wer einmal geliebt hat und immer noch liebt, der weiß auch, wie lange es gedauert hat, sich für die Liebe überhaupt geeignet zu machen. Diese Liebesarbeit ist es, von der man im Schmerz bemerkt, dass man sie nicht so einfach wiederholen kann.“
So entwickelt Genazino das Psychogramm eines Mannes, der sich zwar bemüht, sich in der Realität zurechtzufinden, dem aber sein Anspruch an sich selbst im Wege steht. Zu welcher Erkenntnis wird er letztlich kommen?
Ein Buch für Leser, die es genießen, wenn sich Sprache zu wunderbaren Bildern wandelt.  (Gisela Baumann-Wagner)

 

Anmerkung der Redaktion

11. Februar 2010

Wie gestern bekannt wurde, erhält Wilhelm Genazino den mit € 10.000 dotierten Rinke-Sprachpreis für seinen Roman. Für sein Werk wurden ihm bereits der Georg-Büchner-Preis und der Kleist-Preis zugesprochen.

 

 

JOHN BOYNE - DER JUNGE IM GESTREIFTEN PYJAMA

 

Es gibt viele Bücher, die das so genannte 3. Reich beschreiben. Dieses ist eines, das jeden berührt, der es liest, auch wenn es eher ein Jugendbuch ist. Wir sollten nicht aufhören, uns damit zu beschäftigen, was diese Zeit ausmachte. Altbundeskanzler Helmut Schmidt, der in diesen Tagen seinen 90. Geburtstag feiert, hat in einer Gedenkrede, die er am 23. November 1977 im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz hielt, uns allen den Grund genannt:
„Wir heutigen Deutschen sind als Personen nicht schuldig, aber wir haben die politische Erbschaft der Schuldigen zu tragen, hierin liegt unsere Verantwortung. Aus ihr erwächst der Auftrag, die Zukunft nicht dem Zufall zu überlassen, sondern sie mit Mut, mit Umsicht zu gestalten." Dies gilt für uns und für unsere Kinder. Sie müssen die Möglichkeit haben, nicht nur durch Faktenwissen einen Einblick in die Zeit zu gewinnen, sondern sollten auch einen emotionalen Zugang gewinnen. Das bietet dieses Buch.
Bruno ist 9 Jahre alt und lebt mit seiner älteren Schwester und den Eltern in einem herrschaftlichen Haus in Berlin. Sein Vater ist ein wichtiger Mann und wird eines Tages nach „Aus-Wisch" versetzt. Die Familie muss mit. Bruno registriert mit dem klaren, unbestechlichen Blick des 9-jährigen die Vorgänge um ihn herum, ohne sie wirklich einordnen zu können. Entsprechend dem Erziehungsstil der Zeit wird mit den Kindern wenig oder gar nicht geredet. Bruno ist auf sich gestellt, denn die ältere Schwester ist keine wirkliche Gesprächspartnerin für ihn. Unterricht erhalten die Kinder vom Hauslehrer. Schließlich findet er aber doch einen Freund; nur lebt der leider jenseits des merkwürdigen Zauns, hinter dem eine Kolonie von eigenartigen Menschen wohnt, die alle eben jene gestreiften Anzüge tragen. Spielen können sie nicht zusammen, aber reden. Die Geschichte spitzt sich zu, man mag das Buch nicht mehr aus der Hand legen.
Bevor Sie dieses Buch verschenken, lesen Sie es selbst. Sie werden erschüttert sein.

(Gisela Baumann-Wagner)