Hagen
Othello
Guiseppe Verdi
Premiere Juni 2014
Draußen scheint vor der Premiere die Sonne, drinnen im Theater jagen schon düstere Sturmwolken über den Himmel. Davor eine Art stadtmauerartiger hoher Steg, ganz im Vordergrund ein Wachturm. Erstaunlich, welch kreative Lösungen den Hagenern bei ihrer relativ kleinen und engen Bühne einfallen (diesmal wieder, auch die Kostüme: Jan Bammes): Haben wir unten nicht genug Platz, gehen wir eben in die Höhe (das war bei „Carmen“ und „Don Quichotte“ auch schon einleuchtend gelöst).
Noch bevor das Licht ausgeht, betreten drei schwarz gekleidete Soldaten mit Maschinenpistolen die Bühne und besetzen Steg und Wachturm, beherrschen auch im weiteren Verlauf die Szene. Alles Individuelle wird frontstadtmäßig verhindert, insofern bleibt alles sehr düster, fast alle, auch die Frauen, tragen Tarnanzüge oder Uniform. Die Soldateska beherrscht alles mit ihren verrohten Regeln. Und wenn der Gesandte aus Venedig kommt, müssen alle Jubelperser spielen und Fähnchen schwenken.
Otello trägt über seinem Tarnanzug wenigstens noch einen weißen Mantel, aber letzlich ist Desdemona die einzige Zivilistin, in leuchtendem Rot und unschuldigem Weiß; das trägt sie auch in ihrer Sterbeszene.
Neu ist, dass Jago und Emilia einen Sohn haben, der im 2. Akt aber schon mit Panzern spielt. Für ihn ist Otello eine Art Onkel, den er gut kennt und an der Hand ins Zimmer führt, nicht ahnend, was sein Vater mit ihm vorhat. Hier wird aber auch schon das gestörte Verhältnis zwischen Jago und Emilia deutlich. Diese wird in dieser Inszenierung (Annette Wolf) aufgewertet, sie schwankt gegenüber Desdemona zwischen Mitgefühl und Kontrolle, schließlich ist sie die Chefin der vier schwarzen Männer, die diese in ihrer letzten Szene bewachen und mit Maschinenpistolen bedrohen, bevor Otello kommt.
Neben diesen Akzentuierungen kommt es der Regisseurin besonders auf konsequente und nachvollziehbare Personenführung an, gelegentlich durch Lichtwechsel unterstützt. Ihre sorgfältige Arbeit führt zu beeindruckenden Ergebnissen: Die bösartige Unerbittlichkeit Jagos wird ebenso klar wie die Selbst-Unsicherheit Otellos und seine Naivität in emotionaler Hinsicht. Auch wird sehr schön gezeigt, dass in dieser kontrollierten Militärwelt die Reinheit und Unschuld Desdemonas keine Chance haben. So bleibt auch der sie ehrende Kinderchor in der zweiten Reihe, davor treibt Jago mit Otello sein intrigantes Spiel.
Das Ensemble am theaterhagen war – bis auf eine Ausnahme – wieder in der Lage, alle Rollen aus dem eigenen Haus zu besetzen: Richard von Gemert als Roderigo, Rainer Zaun als Lodovico und Orlando Mason als Montano boten die gewohnte hohe Qualität. Sehr beklatscht wurde Kejia Xiong als Cassio, der auch darstellerisch einiges zu bieten hatte. Bei Veronika Hallers Desdemona schienen mir im ersten Teil einige Spitzentöne noch nicht ganz frei zu sein, im zweiten Teil sang sie aber tadellos, im letzten Akt das Lied von der Weide und das Ave Maria besonders schön und einfühlsam. Raymond Ayers lieferte sängerisch und darstellerisch einen fulminanten Jago ab, scheute sich auch nicht, seine Rolle bis zur stimmlichen Hässlichkeit auszureizen. Als Gast war der brasilianische Tenor Ricardo Tamura engagiert, der meist an der Met oder anderen großen Häusern auftritt, aber durch seine Kunst immer wieder mittleren und kleineren Häusern zu Glanz verhilft, in dem er die Ensemblemitglieder dazu bringt, ihre ohnehin vorhandene Qualität noch weiter zu steigern. Ihm zuzusehen und vor allem zuzuhören ist ein Genuss. Die Spannweite seiner durchschlagskräftigen Stimme ist groß. Die lyrischen Passagen gelingen ebenso wie die dramatischen Ausbrüche. Sein Timbre erinnert mich stark an Luciano Pavarotti. Hörenswert!
Neben dem Kinderchor waren auch noch Opern- und Extrachor (Wolfgang Müller-Salow) aufgeboten. Bis auf ein paar kleine Wackler in der Sturmszene am Anfang sang und agierte er absolut überzeugend, auch in der Bewegung, nur schien er mir an einigen Stellen zu schnell die endgültige Position erreicht zu haben und wirkte dann zu statisch.
Das philharmonische orchesterhagen unter Florian Ludwig schien sich bei dramatischen Passagen am wohlsten zu fühlen, bewältigte auch die lyrischen Stellen sehr schön, hätte aber vor allem bei den Unisoni in den tiefen Streichern besser intonieren müssen.
Was ich nicht verstanden habe: Was bedeutet die seltsame Kiste im 4. Akt? Die Sarg-Allegorie als Desdemonas Sterbeort wäre ja noch verständlich, aber war das nicht vorher auch ihr Ehebett? Und für beide wäre es zu eng, und dann noch mit Deckel?
Insgesamt gesehen wieder eine beeindruckende Leistung des Hagener Ensembles, das mit standing ovations belohnt wurde. Dass Ensemble und Publikum sich als eine Art Familie verstehen, zeigte sich auch darin, dass Norbert Hilchenbach, der Intendant, es sich nicht nehmen ließ, das Publikum vor der Premiere persönlich zu begrüßen und zur Premierenfeier einzuladen. Und das Bestehen auf Ensemblekultur kann man angesichts anderer Entwicklungen nicht hoch genug schätzen!
Also fahren Sie nach Hagen! Das Theater ist in der Nähe des Hauptbahnhofs, leicht zu erreichen. Ein Parkhaus ist direkt gegenüber, und wenn man im Theater die Parkkarte entwertet, kostet es nur 4 €!
Fritz Gerwinn
Weitere Aufführungen am 20., 25., 27. Juni und am 2. Juli, Wiederaufnahme in der nächsten Saison ab 25. 10 2014