BAYREUTH
Die glücklichen Kartenbesitzer nehmen auf den schmalen Sitzen Platz. Armlehnen und Polster fehlen. Das nun beginnende fünfstündige kollektive körperliche Leiden nimmt seinen Anfang. Wohl dem, der an ein Sitzkissen gedacht hat und einen schlanken Sitznachbarn hat. Ich hatte Glück: die elegante ältere Dame zu meiner Rechten läßt mir genug Raum zum Atmen. Das soll aber nicht den ganzen Abend so bleiben. Nach der zweiten Pause hat den Platz ein Bayreuther Bürger in Jeans eingenommen, der die Karte von der Dame, der die bisherigen zwei Akte wohl nicht zugesagt haben, geschenkt bekommen hat..
Der Saal verdunkelt sich vollkommen, es herrscht absolute Stille, als das Vorspiel in donnerndem C-Dur einsetzt und einen musikalisch überzeugendes und inszenatorisch fragwürdiges Opernerlebnis einleitet. Um es vorwegzunehmen – Katharina Wagner hat sich von ihrem Urgroßvater mit ihrem Hügel Debüt weitest möglichst entfernt: keine Katharinenkirche, keine Schusterstube und keine Festwiese. Die simple Butzenscheibennostalgie von Vater Wolfgang muss es heute ja wirklich nicht mehr sein, aber nur textferne Provokation als intellektuelles Verwirrspiel ist auch keine gelungene Interpretation der wagnerschen Grundidee, die archaischen mittelalterlichen Traditionen der Nürnberger Meistersingergesellschaft mit Walther von Stolzings neuer Gesangskunst zu verschränken.
Stolzing, von Klaus Florian Vogt mit seiner lyrisch-hellen, kräftigen Tenorstimme wunderbar interpretiert und nach dem Schlussvorhang mit viel Applaus bedacht, wandelt sich im Laufe der Inszenierung vom hyperaktiven Dreadlock-Hippie zum angepassten, korrumpierten Anzugträger, der zum Schluss sowohl den goldenen Preishirsch als auch den überdimensionierten Scheck ablehnt. Wieso Walther von Stolzing statt als Musiker eher als mit seinem weißen Farbeimer alles beklecksender Maler inszeniert wird, hat sich mir nicht erschlossen.
Als Gegenentwurf tritt Sixtus Beckmesser auf, der sich, zunächst pedantischer Oberbürokrat, seltsamerweise zum T-Shirt (Beck in town!) tragenden avantgardistischen Außenseiter verwandelt. Der jugendlich wirkende Bariton Adrian Eröd singt kraftvoll und gut verständlich –er wird zu Recht vom Publikum gefeiert.
Auch der Brite James Rutherfort erobert mit seiner weichen Baritonstimme das kritische Bayreuther Publikum. Leicht hat er es als Hans Sachs bei Katharina Wagner nicht, der als singender Schustermeister zunächst barfuß, rauchend und auf einer Schreibmaschine klimpernd, auftritt. Später, im langen dritten Aufzug, wird er zunächst in seiner schönen neuen Designerwelt von absurd karnevalesken Schwellköpfen, die deutsche Geistesgrößen, einschließlich Wagner selbst, darstellen, gefangen und orgiastisch umtanzt. In seiner Schlussansprache mit dem Lob auf die Meister läßt die Regisseurin Hans Sachs als faschistoid agierenden Parteitagsredner agieren.
Was bleibt von einer denkwürdigen Vorstellung außer der mit heftigen Buh- und wenigen Bravorufen bedachten Inszenierung? Bei geschlossenen Augen, vor allem im dritten Aufzug, ein musikalischer Genuss. Neben dem engagiert spielenden Festspielorchester unter Sebastian Weigle und den Gesangsprotagonisten brilliert der grandiose Chor, der leider zu häufig nur aus der Off zu hören ist.
Es ist schon ein besonderes Erlebnis auf dem Grünen Hügel – die elegante, aber nie elitär wirkende Atmosphäre, das sachkundige Publikum zwischen zwölf und neunzig Jahren und die traditionelle Pausenbratwurst, als Alternative zum Steigenberger Gourmet-Angebot im Restaurant, ist lecker; wie wohl immer, verköstigen sich nicht Wenige während der einstündigen Pausen mit einem selbstmitgebrachtem Imbiss auf dem Parkplatz. So ist es eben in Bayreuth.
(Rainer Schwirtzek)
Weitere Infos:
http://www.bayreuther-festspiele.de/
Literaturtipps: Martin Gregor Dellin: Richard Wagner, Pipe
Joachim Köhler: Der letzte der Titanen, Claassen
Brigitte Hamann: Winifred Wagner oder Hitlers Bayreuth, Piper
Jonathan Carr: Der Wagner Clan, Hoffmann und Campe
Oliver Hilmes: Herrin des Hügels. Das Leben der Cosima Wagner,Siedler
Oliver Hilmes: Cosimas Kinder, Siedler