Kejia Xiong (Edgardo), Cristina Piccardi (Lucia), Foto: Klaus Lefebrve
Kejia Xiong (Edgardo), Cristina Piccardi (Lucia), Foto: Klaus Lefebrve

Gaetano Donizettis Lucia di Lammermoor in Hagen

Premiere am 21.1.2017

 

Wahnsinn nach Missbrauch

Ein neues Highlight in Hagen

 

Am Anfang sind die Hörner des Hagener Orchesters mit sanftem Bläsersatz zu hören, verbinden sich mit einem Holzbläsersolo, ehe unvermittelt kraftvolle dissonante Blechbläserakkorde die Idylle zerbrechen. Schon am Anfang wird so die musikalische Spannweite der folgenden Oper klargemacht. Das Orchester unter Mihhail Gerts hatte sich gut vorbereitet, brachte die hochemotionale Musik Donizettis brillant über die Rampe und beflügelte damit auch die schauspielerischen Fähigkeiten der Sänger und Sängerinnen. Das Publikum honorierte das schon nach der ersten Szene mit kräftigem Beifall, der sich bis zum Schluss steigerte. Von der zartesten Romanze bis zur robusten Katastrophen-Musik wurde alles genauestens nachvollzogen, dabei besonders ausdrucksstarke Instrumente hervorgehoben, immer wieder die Hörner, aber auch die Harfe in der 2. Szene. Und die Glasharmonika in Lucias Wahnsinnsarie zeigte deren totale Desorientierung durch die nicht ortbaren Klänge.

 

Auch die Zusammenarbeit mit dem Regisseur scheint bestens geklappt zu haben. Thomas Weber-Schallauer hatte die Musik genau gelesen und gehört und darauf aufbauend die Geschichte in sehr lebendiger Weise bis in die einzelnen Gesten hinein entwickelt und erzählt. Das zeigte sich an sorgfältiger Personenführung, die vor allem das Profil der kleineren Rollen schärfte. Deren Motive, Charaktere und auch ihr Anteil an Lucias Abgleiten in den Wahnsinn wurden so sehr deutlich gemacht. Besonders sinnfällig wurde das an Normanno, dem Hauptmann der Ashton-Truppen (Matthew Overmeyer). Sein Hass auf Edgardo, den letzten Spross der Ravenswoods, ist sogar stärker als der des Familienoberhauptes, so dass er in einer Art von vorauseilendem Gehorsam sich für keine Schurkerei zu schade ist und, abweichend von der sonst üblichen Handlung, am Ende sogar Edgardo ersticht. Ebenso ist Lucias „Vertraute“ Alisa (Kristine Larissa Funkhauser) eine intrigante Person, die alles, was Lucia sagt, protokolliert und an Normanno, von dem sie abhängig ist, weitergibt. Als arroganter Emporkömmling wird Arturo Bucklaw, der Mann, den Lucia heiraten muss, dargestellt (Peter Aisher). War es ein Zufall, dass er in Wortwahl und Körpersprache wie Donald Trump wirkte? Den schlimmsten Einfluss auf Lucia hatte aber ihr geistlicher Erzieher Raimondo (Rainer Zaun), immer wieder bigott mit dem Kreuz hantierend. Er ist schließlich derjenige, der Lucia immer willenloser machen und so zur Heirat mit Arturo überreden kann, indem er ihr mit dem Kreuz in der Hand unter den Rock zwischen die Beine greift, sicher nicht zum ersten Mal. Kein Wunder, dass Lucia in einem solchen Umfeld psychotisch geworden ist.

Die Betonung der „Nebenpersonen“ geht überhaupt nicht auf Kosten der drei Hauptpersonen, im Gegenteil. Dadurch werden ihre Charaktere und Motive nur noch deutlicher. So kann Enrico Ashton (Kenneth Mattice in der Premiere) machtgeil und aggressiv das Oberhaupt seiner bankrotten Familie spielen, wenn er auf solche Vasallen zurückgreifen kann. Offensichtlich hatten die auch schon vorher hinsichtlich Lucia alles buchstäblich im Griff und ließen sie keine Sekunde zu sich selbst kommen. Erst in der Wahnsinnsszene, als Lucia, ihn mit ihrem Geliebten verwechselnd, sich in erotischer Ekstase auf ihn wirft, beginnt er zu begreifen, was er angerichtet hat. Am Ende wird er sich erschießen und damit den Reigen der Toten vervollständigen.

Was für eine Frau wäre Lucia (Cristina Piccardi) geworden, wenn sie nicht diese Art der Erziehung, übergriffige Bevormundung und Missbrauch hätte erleiden müssen? Ganz sicher eine sehr starke Frau. Die Spannung zwischen starkem Freiheitsdrang und ständigem gewaltsamen Benutzt- und Begrenztwerden wird in dieser Inszenierung überdeutlich. Klar wird auch, dass ihr Wahnsinn nicht erst beim Mord an Arturo ausbricht, sondern schon vorher sehr ausgeprägt ist.

Edgaro (Kejia Xiong), Lucias Geliebter, steht in jeder Hinsicht dazwischen, muss unausgegoren bleiben, weil er die Intrigen der Ashtons nicht durchblicken kann. Aber auch er verhält sich gegenüber Lucia in der Liebesszene im 1. Akt keineswegs immer liebevoll, zeitweise sogar außerordentlich brutal, offenbar hin- und hergerissen zwischen seiner Liebe zu Lucia und seinem Racheschwur gegenüber dem Haus Ashton.

Mit Cristina Piccardi, die schon die Königin der Nacht und die Figaro-Susanna gesungen hat, haben die Hagener eine hervorragende Sängerin in ihr Ensemble aufgenommen, bei der vom Lyrischen bis zum Hochdramatischen jeder Ton sitzt und die ihre Rolle auch schauspielerisch im Griff hat. Dass das Hagener Ensemble in jedem Stück, in jeder Vorstellung bravouröse Leistungen bringt, bestätigte sich auch diesmal. Alle Sängerinnen und Sänger sangen nicht nur untadelig, sondern schaukelten sich in schauspielerischer Hinsicht, besonders dann, wenn die Musik kochte, bis in ekstatische Bereiche hoch. Auch Chor und Extrachor (Leitung Wolfgang Müller-Salow) sangen und spielten auf hohem Niveau, lieferten bei der Hochzeitsfeier das moralferne Abbild einer orgiastischen Festgesellschaft.

Standing Ovation am Schluss.

 

Das theaterhagen hat für die nächste Saison zwar schon einen neuen Ballettdirektor, aber immer noch keine Nachfolge für die Intendanz. Offenbar schreckt der geringe Etat ab, mit dem solch hochstehende Leistungen wie an diesem Abend wohl nicht mehr möglich sein werden. Wenn die Weigerung, den Etat zu erhöhen, daran liegen sollte, dass die entscheidenden Menschen noch nicht im Opernhaus waren oder von Oper zu wenig zu verstehen glauben: anhand dieser Inszenierung ließe sich der Wert dieses Theaters erkennen.

 

Fritz Gerwinn, 22.1.2017

 

Weitere Aufführungen:

27.1., 1.2., 5.2., 10.2., 16.2., 1.3., 1.4., 23.4., 14.5. 2017