Neuentdeckung einer surrealistischen Oper
Bohuslav Martinus „Julietta“ im Wuppertaler Opernhaus
Premiere 5.03.2018
Lange war die 1938 entstandene Oper „Julietta“ von Bohuslav Martinu in
Vergessenheit geraten. In den letzten Jahren wurde sie wiederentdeckt, in
mehreren größeren Städten inszeniert. Nun also auch in Wuppertal.
Gleichzeitig mit der Wuppertaler Premiere wurde im Internet auf
operavision die Neuinszenierung dieses Werkes aus Prag ausgestrahlt, der
Stadt der Uraufführung. Man durfte also gespannt sein.
Der Dirigent des Abends, Johannes Pell, forderte in Team-Interview vor der
Premiere das Publikum auf, diese Oper zu genießen, ein dezenter Hinweis
darauf, dass man nicht allzu einfache Kost vor sich hatte. Das bestätigte
sich vor allem im ersten Teil, der fantastische 3. Akt nach der Pause ließ
dann aber die Mühen der ersten beiden Akte vergessen.
Schließlich zählt Martinus Oper zu den bedeutendsten musikdramatischen
Werken des Surrealismus, die Grenze zwischen Realität und Fiktion
verschwimmt dauernd, ständige Absurditäten erschweren den Nachvollzug
der Handlung. Der Pariser Buchhändler Michel kehrt in eine Stadt zurück,
weil er Julietta wiederfinden will, ein Mädchen, das er dort vor drei Jahren
gesehen hat und singen hörte. Die Stadt hat sich aber verändert: alle
Bewohner haben ihr Gedächtnis verloren, einige sind sich aber dieses
Verlustes bewusst. Bei den vielen Begegnungen mit den Menschen der
Stadt erlebt Michel Bedrohliches und Absurdes, wird aber auch zum
Kapitän der Stadt ernannt, weil ein Kommissar merkt, dass Michel sich an
seine Vergangenheit erinnern und damit den Bewohnern helfen kann. Der
Kommissar weiß allerdings beim nächsten Zusammentreffen mit Michel
davon nichts mehr. Erst gegen Ende des ersten Aktes trifft Michel die
titelgebende Julietta, trifft sich nach weiteren Begegnungen mit skurrilen
Gestalten mit ihr im Wald. Auch sie hat keine Erinnerungen an die
Vergangenheit, erfindet aber gemeinsame Erlebnisse und Reisen mit
Michel, die niemals stattgefunden haben. Die beiden streiten sich, ein
Schuss löst sich, Julietta scheint tot. Der Verurteilung entgeht er, weil er
dem Tribunal die von Julietta erfundenen Geschichten erzählt und damit
langsam in den Bannkreis der gedächtnislosen Welt gerät.
Soweit die ersten beiden Akte, die fast zwei Stunden dauern. Viele
Episoden folgen aufeinander, manchmal auch mit plötzlichen, absurden
Wendungen. Das Regieteam (Inga Levant, Regie, Jan Freese und Petra
Korink, Bühne, Petra Korink, Kostüme (fantastisch!) und Rafael Dziemidok,
Choreographie) hatte jede Menge gute Arbeit geleistet, um die
Unterschiedlichkeiten der einzelnen Szenen wirksam auf die Bühne zu
bringen, Bedrohliches, Skurriles, sogar Lustiges. Sänger und Sängerinnen
sangen nicht nur hingebungsvoll und wortverständlich (trotzdem waren die
Textüberblendungen eine wert volle Hilfe), sondern spielten auch
hervorragend. Einzelne Szenen bleiben in Erinnerung, so zum Beispiel der
mächtige Mann mit dem Bilderrahmen um den Hals, oder „Altvater
Jugend“ (was für ein Widerspruch!), der mit seinen Füßen die Trauben in
einem Weinfass bearbeitet, daraus dem armen Michel auch gleich ein Glas
kredenzen kann. Sehr eindrucksvoll auch die Szene, wenn beim ersten
Wiedersehen (und partiellem Wiedererkennen) von Michel und Julietta
diese nicht Michel, sondern den Akkordeonspieler umarmt. Dieser Musiker
(der auch ausgezeichnet Klavier spielt) spielt nicht nur in der Handlung
eine wichtige Rolle, sondern auch im musikalischen Konzept des
Komponisten. Der Damenchor (Leitung: Markus Baisch) sang nicht nur
berückend, sondern tanzte und spielte auch so.
Aber warum waren nach der Pause etliche Plätze leer? An der Musik
Martinus lag es gewiss nicht, denn die ist abwechslungsreich und
spannend, vom Wuppertaler Orchester unter Johannes Pell eindringlich
und intensiv gespielt. Sie bedient sich zahlreicher unterschiedlicher
Stilistiken. Das kann man „pluralistisch“ nennen, eine
Kompositionstechnik, die der Komponist B.A. Zimmermann, dessen 100.
Geburtstag gerade gefeiert wird, später perfektionierte. Diese Musik ist
aber keinesfalls „eklektizistisch“ im Sinne eines postmodernen
Flickenteppichs, sondern wird zusammengehalten vom Ausdruckswillen
Martinus, der die verschiedenen Techniken und Stile präzise einsetzt, so
dass sie zum jeweiligen Geschehen genau passen oder dieses
kommentieren. Da erscheinen kräftig voranschreitende rhythmische
Passagen im Sinne von Strawinski und Prokofieff mit vollem Orchester und
manchmal schrill dissonanten Bläsern, Anklänge an große Sinfonik,
liedartige Passagen, aber auch etliche Stellen mit nur wenigen oder sogar
solistisch auftretenden Instrumenten. Vor allem im 2. Akt hatte ich oft den
Eindruck, dass Martinu immer wieder musikalische Klischees verwendet,
diese aber ironisiert. So erklingt dann, wenn vom Wald die Rede ist, ein
einsames Englischhorn, in der Musikgeschichte oft mit Natur assoziiert;
(scheinbar) große Gesten werden mit pseudoromantischer Musik unterlegt,
dabei wird die romantische Soße aber ein klein wenig zu dick aufgetragen.
An einigen Stellen verzichtet Martinu ganz aufs Orchester und lässt einem
Akkordeon- und Klavierspieler, der auch in die Handlung eingebunden ist,
den Vortritt. Andererseits: Die SängerInnen haben singend und sprechend
unglaubliche Textmengen zu bewältigen, der erforderliche Sprechduktus
könnte zu einem Nachlassen der Aufmerksamkeit geführt haben. Und dann
wäre da noch die Länge zu nennen: Fast zwei Stunden
aufeinanderfolgende Episoden, die eher in gleichmäßiger Form
aneinandergereiht sind, ohne dass sich eine nachvollziehbare Steigerung
ergibt, können mit der Zeit doch etliche Zuschauer ermüden. Vorsichtiges
Kürzen würde den ersten beiden Akten also guttun.
Wer nach der Pause wiederkam, wurde dann auch belohnt: Pralles Theater,
knapp, genau, der gesamte Raum des Theaters wurde genutzt, mit einem
Schluss, der das gesamte Personal noch einmal auf die Bühne brachte,
aber doch sehr nachdenklich machte. Michel befindet sich in einem
Traumbüro, in dem Träume gegen Entgelt und zeitlich begrenzt möglich
gemacht werden. Besonders eindrucksvoll der Traum des Sträflings, der
sich statt seiner Zelle ein großes Appartement mit Fernseher und
goldenem Klo wünscht, sich am Ende des Traums wirkungsvoll den Hintern
mit dem geliehenen Bademantel abwischt. Aber auch abgebrochene
Träume werden gezeigt, wie der Traum eines Bettlers von einem Urlaub
auf einer tropischen Insel zeigt. Eine brillant tanzende Choristin als Hula-
Hula-Girl hört sofort verärgert auf, als klar wird, dass der Träumende am
falschen Tag gekommen ist und kein Anrecht auf seinen Traum hat.
Alle Rollen werden von Mitgliedern des Wuppertaler Ensemble bewältigt,
und das in jeder Hinsicht großartig. Kleinere Partien wurden von
Chormitgliedern übernommen, Ensemblemitglieder spielten mehrere, z.T.
sehr unterschiedliche Rollen. Sangmin Jeon sang mit farbenreichem Tenor
die Hauptrolle des Michel, bewunderswert, wie er seine riesige Textmenge
bewältigte. Ralitsa Ralinova hat als Julietta deutlich weniger zu singen, oft
aber ganz allein ohne jegliche Begleitung, überzeugte aber in allen
Episoden durch empfindsame Gestaltung ihrer Partie. Catriona Morison,
Simon Stricker und Sebastian Campione sangen nicht nur präzise und
wortverständlich, sondern erfüllten die Anforderungen ihrer verschiedenen
Rollen durch intensive Körpersprache in jeder Hinsicht. Christian Sturm
leuchtete vor allem den Charakter des Kommissars, sondern auch den des
traumverteilenden Beamten im 3. Akt singend und sprechend nachhaltig
aus. Sehr wirkungsvoll war auch Christopher Bruckman als Akkordeon- und
Klavierspieler.
Viel zu kritisieren gibt es also wirklich nicht. Das Wuppertaler Opernhaus
hat in allen Bereichen professionelle Arbeit geleistet. Wer dem Rat von
Johannes Pell folgt und die ersten beiden Akte vor der Pause genießt,
erlebt danach noch einmal eine deutliche Steigerung und wird reich
belohnt!
Fritz Gerwinn, 5.3.2018
Weitere Aufführungen: 11.3., 23.3., 14.4., 17.6.2018