Les Noces (Die Hochzeit)
Tanzkantate von Igor Strawinsky
Libretto vom Komponisten. In französischer Sprache mit deutschen Übertiteln
Oedipus Rex
Opern-Oratorium in zwei Akten von Igor Strawinsky
Libretto von Igor Strawinsky und Jean Cocteau nach ›Oidipus tyrannos‹ von Sophokles.In lateinischer Sprache mit deutschen Übertiteln
Premiere: So. 15. September 2019, 18:00 Uhr Opernhaus
Musikalische Leitung: Johannes Pell
Inszenierung: Timofey Kulyabin
Bühne: Oleg GolovkoKostüme: Vlada Pomirkovanaya
Chor: Markus Baisch
Dramaturgie: David Greiner, Ilya Kuk
Oedipus als Täter
Timofey Kulyabin inszeniert Strawinsky im Wuppertaler Opernhaus
Der Wuppertaler Opernintendant Berthold Schneider beginnt die Saison gerne mit unkonventionellen Paukenschlägen. So einen gab es gleich am Anfang der neuen Spielzeit. Timofey Kulyabin, der schon den „Rigoletto“ 2017 überzeugend neu erzählt hatte, inszenierte Strawinsky, „Les Noces“ und „Oedipus Rex“, zwei eigentlich selbstständige Stücke, die er aber durch seine Regie verband und in die Gegenwart holte. Die von Sophokles überlieferte Geschichte wurde neu erzählt, ohne nur ein Wort des Textes und eine Note der Musik zu verändern. Bei Sophokles versucht 0edipus, dem ihm von den Göttern verhängten Schicksal zu entgehen, seinen Vater zu ermorden und seine Mutter zu heiraten. Dieser göttliche Wille, dem Oedipus trotz aller Widerstände unwissentlich unterliegt, existiert in der Wuppertaler Inszenierung nicht. Bei Kulyabin weiß Oedipus alles über sein Schicksal, führt einen Rachefeldzug gegen seine Eltern, die ihn als Säugling ausgesetzt hatten. Das erfordert einige grundsätzliche Änderungen. Schauplatz ist nicht Theben, sondern ein Feiersaal mit angeschlossenem Brautzimmer einer Art abgeschlossener Gemeinde, die im ersten Teil (Strawinskys „Les Noces“) die Hochzeit der verwitweten Jokaste mit Oedipus, ihrem deutlich jüngeren Liebhaber feiert. In diesem Saal findet auch dessen Enttarnung statt („Oedipus Rex“), noch am selben Tag, nicht, wie bei Sophokles, nach vielen Jahren und vier gemeinsamen Kindern. Von Anfang an, schon bei der Hochzeitsfeier, ist ein Kommissar dabei, der gegen Oedipus ́ Machenschaften ermittelt. Der, gespielt von Gregor Henze, sitzt in einem weiteren kleinen Räumchen, visuell und akustisch verstärkt durch Video und Mikro, übernimmt im zweiten Teil wortwörtlich den Oedipus-Text von Cocteau und Strawinsky, der im Sinne der Brechtschen Verfremdung die Ereignisse vorwegnimmt, die dann auf der Bühne gespielt werden.
In diesem Teil sitzt ihm der schon geblendete Doppelgänger des Oedipus gegenüber. Dies ergibt eine Art Rückblende, die in der Tat an manche Tatort-Auflösungen erinnert.Die Rache des Oedipus wird von Anfang an sehr plausibel dargestellt. Im ersten Teil, „Les Noces“ beleidigt er Hochzeitgäste, verstößt gegen die überkommenen und von der Gemeinde praktizierten Hochzeitsriten, vergiftet den Wein, was dann die Seuche auslöst (Bei Sophokles ist das die von den Göttern ausgelöste Pest). Im zweiten Teil, „Oedipus Rex“ verhindert er aus gutem Grund die Aufklärung, will selber den Mörder finden, lenkt den Verdacht permanent auf andere, schürt Konflikte. Schon im Originaltext erhebt er sich über alle anderen, bezeichnet sich als ruhmreich und hochberühmt, so dass der Verdacht, mit ihm könnte etwas nicht stimmen, nicht ganz abwegig ist. Plausibel, gut nachvollziehbar und sehr lebendig wird das gesamte Drama inszeniert. Die Solisten des „Oedipus Rex“ (Oedipus, Jokaste, Kreon, Teiresias) spielen auch schon in „Les Noces“ wichtige Rollen, dadurch und durch das in beiden Teilen gleiche Bühnenbild werden beide Teile verklammert. Ein Detail scheint mir ganz wichtig zu sein: Oedipus flüstert einem Blinden, der sich später als Teiresias herausstellt, bei einem rituellen Männerhochzeitstanz etwas zu (Hinweis auf sein Verbrechen?), sodass dieser Contenance und Stock verliert und der strenge Ritus erheblich gestört wird. Dieser Blinde wiederholt dann im zweiten Teil die Bewegungen dieses Tanzes, bevor er als Teiresias die kriminellen Machenschaften des Oedipus aufdeckt. Durch die vielfältigen Verklammerungen sind auch die Gesangssolisten als Darsteller gefragt, so auch die beiden Hauptpersonen, den grandiosen Tenor Mirko Roschkowski als Oedipus und die sehr ausdrucksstarke Almuth Herbst als Jokaste, die im ersten Teil gar nichts zu singen haben. Dies gilt auch für Kreon, den Gegenspieler des Oedipus, von Simon Stricker überzeugend dargestellt und gesungen. Weitere Solisten des Opernhauses bilden im ersten Teil eine russische Folkloretruppe: Sebastian Campione, später Tereisias, Sangmin Jeon, später der Hirte, und Iris Marie Sojer als Kreons Frau. Dazu kommt noch Ralitsa Ralinova als rotbäckiges und stimmstarkes Russentanzmariechen, die dann im zweiten Teil nur noch als Pflegerin der von der Seuche befallenen Männer auftreten darf.
Alle SängerInnen und Darsteller sind äußerst motiviert dabei. Das gilt auch für den Chor, im zweiten Teil als verstärkter Männerchor, im ersten Teil komplett als singende und spielende Hochzeitsgesellschaft. Brillant war auch die musikalische Umsetzung. Hierfür, und auch für das Zusammenwirken mit Bühne und Chören, war Johannes Pell, der für die erkrankte Generalmusikdirektorin Julia Jones eingesprungen war, verantwortlich und hielt alle Fäden hervorragend in der Hand. Zwei vollkommen verschiedenen Instrumentierungen waren zu hören. Bei „Les Noces“ vier Klaviere und Schlagzeug (die spielen schon, wenn das Publikum hereinströmt), Strawinsky lässt sich anregen von uralten russischen Hochzeitsliedern, verarbeitet sie aber modern, montageartig, fetzig, rhythmisch äußerst variabel. Das korrespondiert mit dem Gegensatz in der Gemeinde: Gekaufte russische Folkloristen müssen singen und tanzen, uralte, offenbar überlebte Riten werden vollführt, aber in moderner Kleidung. Auch im zweiten Teil - volles Orchester im Graben, aber meist kammermusikalisch eingesetzt - ist eine gewisse Doppelbödigkeit spürbar. Die Musik (Strawinsky ist in seiner neoklassischen Periode) verwendet Modelle und Techniken barocker und klassischer Musik, die aber immer wieder verändert, mit Dissonanzen versehen und modernisiert werden. Dies scheint ganz gut zu passen zu den nicht immer ganz durchschaubaren Intentionen der Personen auf der Bühne.
Der Schluss ist überraschend, zeigt, dass Oedipus mit seinem Rachefeldzug doch ziemlich danebengelegen hat. Er, der sich selbst geblendet hat, wird im übertragenen Sinne wieder sehend, erkennt, was er angerichtet hat.
Viel Beifall für Timofey Kulyabins Neuerzählung und für alle Mitwirkenden.
(Fritz Gerwinn)
Werkeinführung 30 Minuten vor Vorstellungsbeginn
Weitere Termine: So. 29. September 2019, 18 Uhr, OpernhausSa. 19. Oktober, 19:30 Uhr, Opernhaus Fr. 8. November 2019, 19:30 Uhr, Opernhaus