Thriller im Opernhaus
Salvatore Sciarrino: Il canto s´attrista, perché
Uraufführung am 23.10.2021 im Erholungshaus Leverkusen

 

Da die Wuppertaler Oper wegen der Hochwasserschäden weiterhin nicht bespielt werden kann, fand man im Erholungshaus in Leverkusen eine geeignete Ersatzspielstätte. Im Zentrum der Stadt gelegen, ist das Erholungshaus ein relativ großes Theater, hat einen ansteigenden Zuschauerraum, so dass man von allen Plätzen aus gut sehen kann, und einen Orchestergraben, in dem die komplette Besetzung für dieses Stück (14 Streicher, 18 Bläser, 4 SängerInnen) untergebracht werden kann. Auch die (Dreh)Bühne ist voll funktionsfähig, nur der komplette Chor findet dort keinen Platz mehr. Deshalb sang dann von der Empore im hinteren Teil des Zuschauerraums, was den gewünschten Raumklangeffekt ergab. Für die Aufführungen ist das natürlich ein erheblicher logistischer Aufwand. Chor und Orchester brauchen schon zwei Busse, und für die Zuschauer, die nicht mit dem eigenen Auto fahren können oder wollen, wurde ein Shuttlebus gechartert, der lange Parkplatzsuche ersparte. Trotz der vielen Bemühungen: Leverkusen liegt nicht um die Ecke, auch deshalb war der Saal nicht so voll, wie es dieses Uraufführungsereignis verdient gehabt hätte.

 

Gespielt wurde Salvatore Sciarrinos neue Oper „Il canto s´attrista, perché?“. Die sollte eigentlich schon im letzten Sommer im Klagenfurter Theater uraufgeführt und dann von der Wuppertaler Oper koproduziert werden. Corona verhinderte das, es gab nur eine Aufführung vor Fachpublikum. Das Hochwasser verhinderte dann die Aufführung im Opernhaus, doch dank der verdienstvollen Bemühungen der Wuppertaler Oper konnte jetzt tatsächlich die Uraufführung vor Publikum stattfinden.

 

Sciarrino vertont auf seine sehr individuelle Weise eine entscheidende Episode des Atridenmythos aus der griechischen Mythologie: Troja ist gefallen, Agamemnon kehrt zurück und bringt seiner Frau Klytämnestra ein zynisches Geschenk mit: die trojanische Prinzessin Kassandra, die zwar in die Zukunft sehen kann, der aber niemand glaubt. Agamemnons Geschenk an seine Ehefrau ist einerseits Sklavin, andererseits aber seine Mätresse. Klytämnestra hat aber längst einen anderen Plan, will ihren Mann ermorden, weil sie ihm die Opferung ihrer gemeinsamen Tochter Iphigenie nicht verzeihen kann, und Kassandra gleich mit. Dies wird wie ein Thriller aufbereitet: zuerst erfährt ein Wächter vom Fall Trojas, ein Herold kündigt die Rückkehr der Krieger an, ehe Agamemnon selbst erscheint. Dabei will jegliche Freude, die nach langem Krieg aufkommen könnte, sich nicht einstellen, auch im weiteren Verlauf nicht, wenn Klytämnestra und Kassandra ihre großen Szenen haben. Dies zeigt sich in Kostümen und Bühnenbild. Die vorherrschende Farbe ist schwarz, betont die allgemeine Düsternis, und ein Gazevorhang am Bühnenrand lässt alles noch schemenhafter erscheinen. Im gesamten Stück spielt der Chor wie im griechischen Theater eine wichtige Rolle. Auf der Bühne kommunizieren vier Statisten (die hätten Programm namentlich durchaus genannt werden können) mit den handelnden Personen, ihre sängerischen Entsprechungen kommen von vier Chormitgliedern (Marco Agostini, Katharina Greiß, Ja-Young Park, Javier Zapata Vera) aus dem Orchestergraben, die vom Chor auf der hinteren Empore unterstützt werden bzw. sich mit ihm ablösen. Also schon von der Geschichte her keine leichte Kost, aber extrem spannend aufbereitet.

 

Auch Sciarrinos eigenwillige Musiksprache verbietet behagliches Zurücklehnen. Vieles bleibt leise, entwickelt sich aus der Stille. Die gewohnten Klangfarben der Instrumente werden kaum gebraucht, sondern alle anderen mögliche Spielweisen, auch solche, die beim Studium eher zu vermeiden sind, also z.B. bei den Bläsern Atemgeräusche, Glissandi oder Spielen von zwei Tönen gleichzeitig. Der Flötist Udo Mertens führte diese Spielweisen sehr beeindruckend in der vorbereitenden Matinée vor. Diese Klänge, Geräusche, Klangfarben werden von Sciarrino zu einer ungewöhnlichen extrem ausdrucksvollen Musik zusammengeführt, die die jeweilige Stimmung wiedergibt, die Ereignisse auf der Bühne kommentiert, Gesten nachahmt, aber auch Motive der Sängerinnen und Sänger aufnimmt und wiederholt. Es werden aber auch Bausteine verwendet, die in der Musik schon immer eine bestimmte Bedeutung hatten, so kommt zum Beispiel das Seufzermotiv (Halbton nach unten) im Mittelteil der Oper immer wieder vor.
Die Sängerinnen und Sänger werden durch diese Art der Komposition nicht unterstützt. Zwar wandern manche Motive hin und her, letztlich bleiben sie aber allein, müssen ihren Gesang im Kopf und in der Stimme haben. Dies machten alle so überzeugend und wortverständlich, dass der falsche Eindruck entstehen konnte, sie hätten es leichter als die Orchestermitglieder. Zwar konnten sie singen, mussten  keine anderen Geräusche und Klangfarben produzieren, das Einüben der Melodien und vor allem das Auswendiglernen brauchte aber Monate, um so scheinbar mühelos zu erscheinen und auch noch die Charaktere der dargestellten Personen über die Rampe zu bringen. Hier standen die beiden Frauen im Vordergrund. Einmal die kühl und hinterlistig planende Klytämnestra, dargestellt von Iris Marie Sojer, auf der anderen Seite die exaltierte Kassandra, die erst spät auftritt, in ihrer langen Szene dann aber eine ungeheuer emotionale Intensität zeigen muss. Die gelang Nina Koufochristou beeindruckend. Agamemnon war charakterisiert als grober Macho, der gerade von Frauen keinen Widerspruch duldet. Simon Stricker stellte dieses Männerbild sehr gut dar, ebenso offenbarten Tobias Hechler als Wächter und Timothy Edlin als Herold deren Seelenzustände im Gesang. Chor und Chorsolisten reihten sich in diese hohe Qualität nahtlos ein.
Zusammengehalten wurde das Ganze von Johannes Witt, dem neuen ersten Kapellmeister der Bühnen, der exzellent vorbereitet war und präzise geprobt hatte. Bewundernswert, wie er Vokalisten und Orchester über die gesamte Zeit in Balance hielt.

 

Nigel Lowerys Inszenierung betonte die Düsternis der Geschichte, zeigte dies auch an Details, z.B. an den übergroßen blutigen Händen, die zuerst Agamemnon und später, nach dem Mord an ihm, Klytämnestra trug. Kassandra erschien in einer schwarzen Hochzeitskutsche, das zeigte Agamemnons Wertschätzung ihr gegenüber und seine Verachtung gegenüber seiner Frau, deutete aber schon ihr weiteres Schicksal an. Den Schluss bildete eine Art Prozession um das von den schwarzen Wänden befreite skelettierte Haus im Mittelpunkt der Bühne; die erinnerte ein wenig, in extrem trauriger Version allerdings, an Pina-Bausch-Polonaisen. Die Video-Einblendungen auf dem Gaze-Vorhang (u.a. ein runtergekommenes, verdrecktes Haus, ein Suppenkoch) waren nicht immer direkt verständlich, sollten wohl Assoziationen der Zuschauer in Gang setzen.

Am Schluss minutenlanger, enthusiastischer Beifall, der noch einmal anschwoll, als der angereiste Komponist auf der Bühne erschien.

Fritz Gerwinn, 25.10 2021

 

Weitere Aufführungen: 4.12.21 und 5.12.21 im Erholungshaus Leverkusen