Foto: Bettina Stoess
Foto: Bettina Stoess

Richard Wagner: Tannhäuser
Premiere am 27. März 2022 im Wuppertaler Opernhaus
Endlich! Die Premiere für den neu inszenierten „Tannhäuser“ brauchte drei Anläufe, ehe sie tatsächlich stattfand. Drei Wochen vorher musste sie krankheitshalber abgesagt werden, eine knappe Woche später ebenfalls sehr kurzfristig. Auch diesmal hatten Corona und Erkältungswelle den Chor dezimiert, aber doch nicht so, dass die Vorstellung in Gefahr geriet. Immerhin hatte die Verlegung ermöglicht, dass wegen der gelockerten Coronaregeln das Opernhaus wieder voll sein durfte und am Platz die Masken abgenommen werden durften, was aber nicht allen gefiel.
Schon nach wenigen Takten war klar, dass das Wuppertaler Orchester unter Patrick Hahn einen qualitativ hervorragenden Abend bieten würde. Hahn hatte die Partitur intensiv studiert und präzise mit dem Orchester geprobt. Die Lautstärkeskala vom zartesten Pianissimo bis zum heftigsten Fortissimo wurde voll ausgereizt, klangliche Zuspitzungen nicht gescheut. Die emotionalen Charakteristika von sanftesten und genau ausgehörten Holzbläserklängen bis zu aggressiven Blechattacken wurden differenziert dargeboten, auch die vielen Tempowechsel genauestens umgesetzt. Ganz offensichtlich nahm das Orchester nicht nur die Impulse des Dirigenten sorgfältig auf, sondern kam ihm, selbständig den jeweiligen Ausdruck genau treffend, immer entgegen. Eine wunderbare Leistung von Dirigent und Orchester, die schon am Ende des 1. Aktes und zu Beginn des 2. mit starkem Beifall belohnt wurde, erst recht am Schluss. Und was noch ganz wichtig ist: Die Musik steuerte das Geschehen auf der Bühne, jede musikalische Geste fand auf der Bühne ihre Entsprechung, d.h. Dirigat und Regie ergänzten sich, griffen ineinander.
Wer den „Tannhäuser“ inszeniert, hat es nicht leicht, muss sich etwas einfallen lassen. Nicht mehr zu führen ist der Kampf in einer christlichen Gesellschaft auf dem Gebiet der Sexualität zwischen individueller Freiheit und rigider Moral, die zwar hier überlegen ist, deren Nicht-Funktionieren Wagner aber andeutet. Der Gegensatz muss, soll uns diese Oper heute noch etwas sagen, auf ein anderes Gebiet übertragen oder umgangen werden. In dieser Fassung von Regisseur Nuran David Calis ist Tannhäuser der Einzelgänger, der sich nirgendwo anpassen will und in allen möglichen Gruppierungen scheitert. Das wird schon dadurch gezeigt, dass er am Ende des 2. und 3. Aktes allein vor dem sich schließenden Vorhang zurückbleibt.
Da Wagners Text nicht einfach geändert werden kann, benutzt Calis das Mittel des Überschreibens: der Text bleibt, wird aber anders gedeutet.
Im 1. Akt befinden wir uns in einer Venus-Bar eines städtischen Kiezes, in der eine Orgie gefeiert wird, die in eine Art Polonaise um ein rundes Podest führt. Höhepunkt ist dann eine Prozession, in der wohl ein Ritual des Sinnengenusses gefeiert wird. Die „Gläubigen“ beten einen Stierkopf - Zeichen von Zeugungskraft und Fruchtbarkeit – wie eine Monstranz an. In der darauffolgenden Szene mit Venus und Tannhäuser zeigt sich dessen Schwanken zwischen drastisch dargestellter Begierde und Angewidertsein sehr deutlich. Schließlich verlässt er Venus, indem er die Gottesmutter Maria anruft. Hier scheint die Wagner-Handlung durch. Sein auf den Rücken tätowiertes Kreuz verrät offenbar, wo er ursprünglich herkommt. Draußen trifft er auf den jungen Hirten, der Flugblätter verteilt, auf dem ein Sängerwettbewerb auf einem Stadtteilfest angekündigt wird. Der junge Knabensolist Sebastian Scherer spielte und sang diesen exzellent. Tannhäuser trifft dann draußen auf seine alten „Sängerkumpane“, mit denen er schon mehrfach früher Sängerwettbewerbe bestritten hat, und wird nicht ohne Widerstände wieder in ihren Kreis aufgenommen.  Wundern tut man sich darüber, dass der Landgraf Hermann einen langen Rauschebart trägt. Schließlich kommen noch die Pilger ins Bild, die eine Tafel-Heilsarmee-Suppenküche versorgt, von der auch erschöpfte Sexarbeiterinnen profitieren.
Im 2. Akt hat die ganz in gedecktem Weiß gekleidete „Aktivistin“ Elisabeth ein Stadtteilfest organisiert, mit dem Motto „Birlikte#Zusammenstehen“. Ihre aufgestellten Plakate werden von einem älteren bärtigen Moslem in typischer Kleidung (ein Imam?) niedergerissen. Das ist der Bärtige vom Ende des 1. Aktes, der hier nicht mehr den Landgraf verkörpert, sondern offensichtlich eine Art Bürgermeister dieses Kiezes ist, ganz andere Werte hat als Elisabeth und ohne Widerspruch sagen kann, wo es lang geht. Im Hintergrund sieht man die Rückseite der Venus-Bar, und das Plakat mit dem Motto des Festes lehnt an einem erotischen Bild, auf dem steht, wieviel eine halbe Stunde in diesem Bordell kostet. Zu Trompetenklängen auf der Bühne füllt sich diese dann zu einem Wimmelbild mit ca. 70 Personen, das Fest geht los, mit dem Sängerwettstreit als Höhepunkt (von einem solchen bei einem Stadtteilfest habe ich zwar noch nie gehört, es gibt aber ähnliche vielgesehene Formate im Privatfernsehen). Solange noch alles in Ordnung ist, werden Fahnen unterschiedlicher Art geschwenkt (Deutschland, Türkei, Südkorea, Fantasiefahnen, auch Ukraine), die werden aber eingerollt, sobald Konflikte entstehen, in diesem Fall also Tannhäuser mit seiner Auffassung der freien Liebe als Systemsprenger auftritt. Obwohl mehrere Nationalitäten vertreten sind, fällt die szenische Dominanz der muslimischen Gruppe ins Auge. Und einen anderen Text muss man sich da auch denken, denn man hört die christlich geprägte Minnesänger-Sexualmoral aus dem Mund anderer Nationen und Religionen, das gesamte Volk stimmt dem auch noch zu und verlässt schließlich protestierend den Schauplatz. Tannhäuser bleibt allein zurück, nur von Elisabeth unterstützt, und wird schließlich zur Buße nach Rom geschickt.
Dabei hat diese scheinbare Einmütigkeit doch schale Züge. Es ist kaum vorstellbar, dass Biterolf, als adrenalinpraller Macho mit langer Mähne im schwarzen Unterhemd dargestellt, tatsächlich das, was er singt, glaubt und lebt. Und Wolfram, der laut und vehement die absolute Reinheit vertritt, sieht man immer wieder am hinteren Fenster der Venus-Bar.
Die auf Videoleinwänden eingeblendete Filme zeigen aber noch etwas Anderes: auch wenn es bei aller Vielfalt erhebliche Konflikte gibt und Einzelgänger von der Mainstream-Gesellschaft sehr schnell ausgegrenzt werden, gibt es doch einen gemeinsamen Gegner. Calis verweist auf die Kölner Keupstraße, die eine ähnliche nationale und religiöse Diversität aufweist wie die hier gezeigte. Hier tötete und verletzte ein Nagelbomben-Anschlag des NSU etliche Menschen, und die Fahndung konzentrierte sich lange nicht auf die wahren Täter, sondern auf interne Konflikte.
Wagners Text und die szenische Darstellung passen nicht zusammen, sollen wohl auch nicht. Der Konflikt wird aber gerade dadurch in die Gegenwart geholt, gezeigt, dass das, was früher passiert ist, in anderer Form auch heute noch aktuell ist und man darauf reagieren muss. Deshalb finde ich Calis´ Umsetzung des 2. Aktes gelungen. Darüber wird es aber sicher heftige Diskussionen geben und viel Anlass zum Nachdenken.
Im 3. Akt mit seinen vielen Soloszenen fährt Calis zurück. Der Kiez ist verlassen, nur wenige Personen sind geblieben. Hier dürfen die Sängerin und die Sänger noch einmal ihre Stimmen entfalten. Besonders eindrucksvoll gelang das dem Wuppertaler Ensemblemitglied Simon Stricker als Wolfram im Lied an den Abendstern, facettenreich und absolut wortverständlich. Seine Leistung wurde am Ende mit großem Beifall belohnt. Ebenso fantastisch das Gebet der Elisabeth, von Julie Adams gesungen, die ihre Stimme nach dramatischen Passagen im 2. Akt auch im zartesten Pianissimo leuchten lassen konnte, vom Orchester in schönster Weise getragen. Bei diesen beiden Szenen konnte man minutenlang die berühmte Stecknadel fallen hören. Schließlich die dramatische Rom-Erzählung von Tannhäuser: Norbert Ernst sang sie berührend und berückend, konnte sich vollkommen auf das Orchester verlassen. Auch hier atemlose Stille. In diesem Akt brauchte nur wenig überschrieben werden. So sind die zurückkehrenden Pilger diesmal tatsächlich aus Rom heimkehrende Pilger und brauchen keine Tafel. Das Ende bleibt offen. Ergrünt Tannhäusers Wanderstock – Zeichen seiner Erlösung – wirklich wieder? Gezeigt wird es nicht. Gottes (?) Gnade bleibt buchstäblich im Dunkeln, auch wenn alle Personen am Schluss noch einmal die Bühne betreten.
Neben Julie Adams und Norbert Ernst hatte man noch zwei weitere Gäste engagiert, die ihre Rollen in jeder Hinsicht genauso hervorragend ausfüllten: Venus wurde gesungen von Allison Cook, im 1. Akt mit ihrer nuancenreichen Stimme ein jeder Situation gewachsener Widerpart Tannhäusers. Guido Jentgens war der umgewandelte Landgraf Hermann mit prächtigem Bass. Ebenso qualitätsvoll aus dem Wuppertaler Ensemble: Sangmin Jeon als Walther und als der schon genannte Biterolf, von Sebastian Campione gesungen. Es gab keinen Ausfall, bei keinem der vielen Beteiligten.
Ein großer Abend, trotz oder gerade wegen des möglichen Diskussionsbedarfs. Langer, donnernder Beifall.
Habe nur ich registriert, dass schon nach den ersten Orchesterklängen die Begeisterung des Publikums spürbar war und sich deshalb alle Beteiligten, vom hervorragenden Orchester getragen, noch mehr gesteigert haben?
Fritz Gerwinn, 28.3.2022


Weitere Termine: 30. April, 26. Juni 2022, jeweils 18 Uhr