La Traviata, Serenad Uyar, Kenneth Mattice, Hyejun Melania Kwon, Theaterhagen, Foto:Bettina Stöß
La Traviata, Serenad Uyar, Kenneth Mattice, Hyejun Melania Kwon, Theaterhagen, Foto:Bettina Stöß

Hagen

Einstand in höchster Qualität

Verdis „La Traviata“ im Hagener Theater
Premiere am 4. Oktober 2025

Das Hagener Theater hat seit dieser Saison sowohl einen neuen Intendanten als auch einen neuen Generalmusikdirektor. Beide stellten sich jetzt mit ihrer ersten gemeinsamen Arbeit vor, der Oper „La Traviata“ von Giuseppe Verdi. Das war ein voller Erfolg. Sorgfältige, ideenreiche Regie kam zusammen mit genau und sinnfällig gespielter Musik, SängerInnen, Chor und Orchester agierten in Bestform. Das lässt weitere hervorragende Arbeit im Musiktheater, aber auch in den anderen Sparten, erwarten, was das Haus ja auch überregional interessant macht. Jedenfalls kann ich mich nicht erinnern, in einer Hagener Premiere bei vollem Haus einen so langen, lauten und enthusiastischen Beifall erlebt zu haben.

Wenn man das Parkett betritt, ist zuerst der Steg zu sehen, der den Orchestergraben überbrückt und in den Zuschauerraum führt. Über den verlässt am Ende Violetta Valery ihre Gesellschaft, geht in die Freiheit oder zu sich, das bleibt offen. Dann hat Sören Schuhmacher, der als neuer Intendant Regie führt, zwei stumme Personen eingeführt. Eine davon ist Violetta als Kind, die an entscheidenden Punkten die Bühne über den Steg betritt, sie an die Zeit erinnert, als sie noch vollkommen frei war und alle Möglichkeiten vor sich hatte, und sie auch am Schluss von der Bühne führt. Die zweite Person ist Alfredos Schwester, die ihr Vater zum Gespräch mit Violetta mitbringt, um sie mit doch recht fragwürdigen moralischen und religiösen Argumenten zu bewegen, Alfredo zu verlassen. Sie und Violetta scheinen sich aber gut zu verstehen, weil sie offenbar als bürgerliches Gegenbild zur Prostituierten wahrgenommen wird. Sie reichen sich die Hände, als sie gemeinsam auf den Schaukeln sitzen, und im letzten Akt wird die sterbende Violetta von ihr abgeschirmt, als die unnachgiebigen Karnevalisten brutal bei ihr eindringen. Diese beiden Personen helfen, die Hauptcharaktere sehr differenziert darzustellen, ihre Entwicklungen und emotionalen Achterbahnfahrten.

Schuhmacher arbeitet auch sehr genau den Kontrast zwischen den meist sehr lauten Massenszenen und den intimeren Passagen heraus, die oft unmittelbar aufeinanderstoßen. Die plötzlichen Übergänge sind sehr wirkungsvoll inszeniert, weil Orchester und Chor dies mittragen. Das Laute und Überdrehte der Party- und Massenszenen wird exzessiv ausgespielt, das Orchester kostet das Mitreißende der Unterhaltungsmusik voll aus, u.a. mit stahlhartem Blechbläsersound. Auch das Geschehen auf der Bühne lässt keinen Zweifel daran: einerseits steht Violetta in dieser Gesellschaft im Mittelpunkt, andererseits ist sie aber von ihr ausgestoßen, wird sogar einmal bösartig angestrahlt. Einer der Feiernden, Gastone, enttarnt sich als Transvestit, im Lied der Toreros (mit Stühlen) sind sexuelle Anspielungen nicht zu übersehen, der Kartentisch im 3. Bild besteht aus sadomasochistisch gefesselten Menschen. Bei der dann folgenden Demütigung Violettas ziehen sich die Feiernden zwar zurück, bestehen aber nur noch aus Augen, die das Geschehen gierig beobachten. Das ist eine Skandalgesellschaft mit aufgesetzter Fröhlichkeit. Gerade in diesen Szenen singen und spielen Chor und Extrachor mit großer Begeisterung mit und zeigen ihr Können.
Auch innerhalb einer Szene werden die Kontraste deutlich gemacht. Vor ihrer Demütigung durch Alfredo singt Violetta angsterfüllte elegische Kantilenen zwischen der Partymusik. An diesen Stellen wird die Szene eingefroren, bevor sie danach umso ungehemmter wieder losbricht.
Der Kontrast dazu: Intime Szenen mit wenigen Personen, auch musikalisch brillant ausgeleuchtet und gespielt. Das Orchester unter dem neuen GMD Sebastian Lang-Lessing kann hier seine vollen Fähigkeiten zeigen (im aktuellen Jahrbuch der „Opernwelt“ einmal als „Orchester des Jahres“ gelobt). Zu nennen sind hier einmal die wunderbaren Holzbläsersoli, eingebettet in einen satten Streicherklang (Sonderlob für den Klarinettisten in Violettas Arie im 1. Akt!). Die Streicher waren aber nicht nur in den zarten Pianissimo-Stellen in den Vorspielen brillant, sondern auch in den virtuosen, dramatischen Stellen bravourös. Wie er sagte, hatte Lang-Lessing auch „archäologische Arbeit“ geleistet. Das war zu hören. Zum Beispiel überraschten im 1. Akt einige plötzliche Piani, und in Vater Germonts „Provenza“-Arie ein höheres Tempo als sonst und  eine präzise, auffallende Phrasierung.

Anhand Violettas Arie im 1. Akt zeigt Schuhmacher, wie man mit Zwischenvorhängen Entwicklungen klarmachen kann. Vorher hatte sich schon in der intimen Szene mit Alfredos Liebesgeständnis, von Videoeinblendungen begleitet, ein durchsichtiger Gazevorhang gesenkt, um die Intimität von der sensationslüsternen Gesellschaft abzugrenzen. Nachdem alle Gäste sich verabschiedet haben, hebt Violetta diesen Vorhang an und kommt nach vorn auf den Steg, steht ganz allein vor dem Publikum. Während sie sich an Alfredos Worte erinnert, schließt sich auch der große Vorhang. Wenn sie dann nicht wahrhaben will, dass sie sich verliebt hat, und versucht, in ihre alten Lebensumstände zurückzukehren, gelingt ihr das nicht, denn der Vorhang bleibt geschlossen. Und wenn sie in Worten die Ablehnung von Alfredos Liebe wiederholt, wird das Gegenteil schon klar, dass sie nämlich  Alfredo folgen wird. Der Vorhang öffnet sich, Alfredo steht auf der Bühne, sie wirft sich in seine Arme. Fast überflüssig zu erwähnen, dass alle Facetten der Musik hier so dargestellt werden, dass sie ihren Sinn haben und die schwankenden Gefühle genauestens wiedergeben, die auch und gerade durch die Koloraturen der Sängerin ausgedrückt werden, die äußerst einfühlsam vom Orchester begleitet wird.

Damit ist auch das Problem des Übergangs vom 1. zum 2. Akt sinnfällig gelöst, denn eine  Pause gibt es nicht. Wenn sich die beiden in den Armen liegen, hat der zweite Akt schon begonnen, mit großen Blumen in zuerst heiterer Atmosphäre (Bühnenbild Norbert Bellen). (War das eine bewusste oder unbewusste Erinnerung an die großblumigen Sofas in der Salzburger Decker-Inszenierung von 2005 mit Netrebko und Villazon?). Ähnlich verfährt die Regie im zweiten Teil. Violetta bleibt nach ihrer Demütigung auf dem Steg liegen, für das Vorspiel zum 3. Akt schließt sich kurz der Vorhang, dann geht es direkt weiter. Eine hervorragende Idee, um die atmosphärische Dichte zu bewahren!

Die tragenden Figuren der ganzen Aufführung waren natürlich die Solisten, alle in fantastischer Form. Serenad Uyar, Principal Guest Artist am Theater Hagen, füllte die Rolle der Violetta Valery brillant aus. Ihre facetten- und farbenreiche Stimme bestach in allen Szenen, ließ ihre Entwicklung genau nachvollziehen. Besonders beeindruckend waren ihre Szenen allein vor dem Vorhang, sehr selbstbewusst mit raumfüllender Stimme.

Giuseppe Infantino als Alfredo traf darstellerisch und stimmlich genau das „Welpenhaft-Spielerische“ (Schuhmacher) dieser Person. Zarte Töne bei seinem Liebesgeständnis, aber auch unforciert leuchtende Höhen in Kantilenen und durchschlagskräftig in dramatischen Szenen.

Besonderen Beifall erhielt Insu Hwang als Vater Germont. Er gestaltete seine Partie maximal intensiv, nicht nur darstellerisch, sondern schon allein mit seiner Stimme . Zuerst war er der befehlsgewohnte Vater, der seine Tochter verschachert und sich auf fragwürdige moralische Grundsätze beruft. Im Gespräch mit Violetta zeigt er dann auch weichere Seiten, bevor er wieder in patriarchalische Verhaltensweisen zurückfällt.

Alle Sängerinnen und Sänger wurden durch genaue Personenführung der Regie hervorragend unterstützt. So konnten sich auch die Darsteller der vielen kleineren Rollen in bester Weise präsentieren. Besonders auffallend war hier Dong-Won Seo als Doktor Grenville mit seiner unglaublichen Stimme.

Ein wunderbarer Abend. Viele sinnvolle Einfälle der Regie würde ich noch gerne näher beschreiben. Dazu kamen wunderbare Solisten, ein hervorragender Chor und ein brillantes Orchester. Vieles klingt auch nach Tagen noch nach. Und das führt schon zu Überlegungen, ob nicht nur die Gesellschaft um 1850 gemeint war, sondern auch Parallelen zur heutigen Zeit auszumachen sind. Dann hätte Oper einen wichtigen Zweck erfüllt.

Fritz Gerwinn, 6.10.2025

Weitere Aufführungen: 12.10., 1.11., 13.11., 14.12.2025
8.1., 6.2., 13.3., 21.3., 5.4.2026