Luigi Nono
Intolleranza 2021

 

Premiere am 4. Juni 2021, Opernhaus Wuppertal

 

Eigentlich als Schluss- und Höhepunkt der Feiern zu Engels´ 200. Geburtstag gedacht, musste die fertig geprobte Aufführung 2020 erst verschoben und dann ganz abgesagt werden. Damit die Arbeit von Regie-Altmeister Dietrich Hilsdorf und der auch auf der musikalischen Seite exquisiten Besetzung aber nicht ganz in der Versenkung verschwand, hatten sich die Wuppertaler Bühnen für eine andere Lösung entschieden: die Premiere fand also im Opernhaus statt, coronabedingt aber nur für geladene Kritiker. Die Oper kann dann noch an vier Terminen im Stream angesehen werden.

 

Die Atmosphäre im Parkett stellte sich aber doch als seltsam heraus: nur etwas mehr als 20 Personen verteilten sich dort, darunter immerhin auch die scheidende Generalmusikdirektorin Julia Jones und Oberbürgermeister Uwe Schneidewind. Der durfte dann auch das Publikum begrüßen, auf die Wichtigkeit der Kultur hinweisen und die Zuhörerschaft auffordern, den Zauber der Musik zu genießen.

 

Vorher hatte Johannes Harneit, der musikalische Leiter, vielgefragter Spezialist für Neue Musik und hervorragend vertraut mit dem Gesamtwerk Luigi Nonos, eine kurze Einführung gegeben. Das Orchester war in 4 Gruppen geteilt: 12 Schlagzeuger agierten hinter dem Bühnenbild links auf der Hinterbühne, 12 Blechbläser ebenfalls dort, aber rechts und in 10 Meter Höhe, beide Gruppen wurden von einem zweiten Dirigenten geleitet. Harneit selbst dirigierte die Streicher im Graben, und die Holzbläser spielten im 1. Rang. Damit wollte man die Grundidee Nonos erfüllen: Die Zuschauer sollen sich mitten im Lifeklang befinden. Zwei Chöre wurden aufgeboten: Das renommierte Chorwerk Ruhr unter Sebastian Breuing hatte die großen Chorsätze des Stücks mit Abstand in großen Räumen aufgenommen, die erklangen dann aus den Lautsprechern, und der Wuppertaler Opernchor hatte engagiert die Passagen übernommen, in denen gesungen und agiert werden musste (24 SängerInnen waren erlaubt). Harneit als Nono-Kenner hatte an einigen Stellen noch Elemente aus anderen Werken Nonos eingefügt, so z.B. in der sogenannten Folterszene, in der ein Akkord aus einer anderen Oper ständig wiederholt wird.

 

„„Intolleranza 60“ ist das Erwachen eines menschlichen Bewusstseins in einem Mann, einem Gastarbeiter in einer Mine, der gegen die Anforderungen der Notwendigkeit aufbegehrt, und der nach dem Grund des Lebens und seiner „menschlichen“ Basis sucht.“ So beginnt Nono selbst die Beschreibung seines Werks. Doch schon lange, bevor der schwarze, aber durchsichtige Vorhang aufgeht, auch während der beiden Reden, huschen immer wieder weißgekleidete Menschen, offensichtlich in Eile, über die Bühne. Wenn der Vorhang dann aufgegangen ist, könnte man sie, weil sie auch Masken tragen, für medizinisches Personal halten, dann wird aber durch ihre blutigen Schürzen immer deutlicher, welches die Minen unserer Zeit sind: die Schlachthöfe, und die schmuddelige Wellblechbaracke, in der sich das gesamte Geschehen abspielt, erinnert an die Unterkünfte von Tönnies & Co. Hilsdorf hat die Geschichte also in die Gegenwart geholt, deshalb auch „Intolleranza 2021“, verdeutlicht auch durch eingeblendete Daten: die Geschichte beginnt im Januar 2021 und endet im Dezember 2021.
Der Emigrant genannte Protagonist verlässt also seine darüber schwer enttäuschte Gefährtin, gerät in eine Demonstration (der Wuppertaler Opernchor agiert hier fantastisch!), wird festgenommen und verhört, wobei seine Gefährtin mit der Polizei gemeinsame Sache zu machen scheint. Die folgende Folterszene wird nicht direkt gezeigt, sondern ein Gefolterter erinnert sich traumatisiert an seine Misshandlungen. Dies wird beeindruckend dargestellt von Andrey Berezin, einem Tänzer des Pina-Bausch-Tanztheaters. Der Emigrant kann sich aber schließlich befreien, schließt sich mit einer Frau zusammen, wird von Halluzinationen gequält. Am Ende – in der 60er-Fassung wird er von einer Sintflut fortgerissen – weiß er nicht, ob er seine Frau oder sich selbst erschießen soll. Statt einer stringenten Handlung haben wir es eher mit einer Text-Collage zu tun. Die Suche nach einer herrschaftsfreien Welt wird angedeutet, aber auch die Möglichkeit des Scheiterns. Bezeichnend dafür sind die beiden das Stück einrahmenden Chöre. Der am Anfang beginnt mit den Worten „Tot ist nur, wer nicht mehr auf das Licht wartet“, und am Schluss vertont Nono Brechts „An die Nachgeborenen“.

 

Nono schreibt eine hochdifferenzierte, hochexpressive, komplexe und komplizierte Musik, die für jedes Haus „Ausnahmezustand“ bedeutet. Die Wuppertaler erledigten diese Anforderungen mit Bravour. Neben dem musikalischen Leiter hatten sie für die Hauptpersonen einen Sänger und zwei Sängerinnen engagiert, die sich wie dieser intensiv mit neuerer Musik beschäftigt hatten. Den Emigranten sang und spielte Markus Sung-Keun Park, meisterte diese extrem hohe und anstrengende Partie hervorragend. Bewundernswert auch die Leistungen der „Gefährtin“, Solen Mainguené, und der „Frau“, Annette Schönmüller. Kein Deut schlechter die etwas kleineren Rollen der Wuppertaler Sänger Sebastian Campione als „Gefolterter“ und Simon Stricker als „Algerier“. Höchst engagiert und agil war auch der Wuppertaler Opernchor, der an verschiedenen Plätzen, auch mal im 1. Rang, singen und agieren musste. Durch den notwendigen Abstand bildeten alle als Solistinnen und Solisten den Gesamtklang.

 

Zum Schluss aber doch noch einige kritische Anmerkungen: Wenn auch alle (!) Ausführenden die riesengroßen Herausforderungen annahmen, bleibt doch die Frage, wie das Publikum dieses Werk aufnehmen kann, auch wenn es nur 75 Minuten dauert. Als Nono das Werk schrieb, war er noch in Verbindung mit der „Darmstädter Schule“, wo noch Zwölftontechnik und Serialität regierten, Kompositionstechniken, in denen die Parameter der Musik, z.B. Tonhöhen, Tonlängen, Artikulation, in Reihen gebracht wurden, so dass sich Kompositionen z.T. wie von selbst ergaben und Subjektives, Emotionales eher verpönt war. Auch wenn er sich danach mehr oder weniger davon gelöst hat, erklingt kaum Konsonantes und Emotionales. Neben den Fortissimo-Attacken von Schlagzeug und Blechbläsern gibt es zwar auch eher lyrische, zurückgenommene Passagen, die aber doch oft etwas konturlos bleiben. Schneidewinds Wunsch, den Zauber der Musik zu genießen, hat sich bei mir jedenfalls nicht erfüllt. Schwierig war auch die Verständlichkeit der Texte. Nur mit viel Mühe ließ sich feststellen, dass die Chorsätze am Anfang und am Schluss auf Deutsch und der übrige Text auf Italienisch gesungen wurden. Ohne Übertitel wäre man komplett hilflos gewesen. Meiner Meinung nach lag das nicht an den Solisten, sondern an der Textbehandlung durch den Komponisten, der in den Chören Wörter und Silben verschiedenen Stimmen zuordnete und dadurch die Verständlichkeit erschwerte.

 

Doch vielleicht sind meine Anmerkungen angesichts der Wichtigkeit des Nonoschen Werkes auch subjektiv. Notwendig ist aber ein intensives sich Einlassen auf dieses Werk, egal ob im Opernhaus oder im Stream. Während der Sommerfestspiele in Salzburg soll „Intolleranza“ ebenfalls aufgeführt werden. Man kann gespannt sein auf die Reaktionen des hoffentlich dann wieder zugelassenen Publikums.

Weitere Termine: 26.6., 2.7., 13.8., 27.8.21 jeweils 19.30 Uhr im Stream

Fritz Gerwinn, 5.6.2021

Onlinepremiere: Fr, 18.6.2021