Wuppertal

Gießen

 

Der Freischütz

 

Das Thekenpersonal im Wuppertaler Kronleuchterfoyer guckte etwas ängstlich, als die ersten Besucher nach dem ersten Teil aus dem Zuschauerraum strömten. Ob sie wirklich Sekt und Brezel loswerden würden? Denn: beim Essen und Trinken nimmt man etwas zu sich, die Freikugeln, die in der Wolfsschluchtszene gegossen wurden, hatten jedoch kurz vorher mit entsetzlichem Gewürge den entgegengesetzten Weg genommen und waren deutlich hörbar in einem Blechgefäß gelandet. Trotz allem, der Sekt floss und am Ende der Pause gab´s auch keine Brezeln mehr.

Auch in der Giessener Aufführung war die Wolfsschluchtszene, vor allem in der Presse, der große Aufreger. Während Kaspar und Max unten am Bühnenrand die Kugeln gießen, ist auf großer Videoleinwand erst Max` nächtlicher Weg in den Wald zu sehen, dann, wie er sich wie ein Terrorist vermummt, als Amokläufer in eine Schule eindringt und eine ganze Mädchen-klasse erschießt, alle so altfränkisch gekleidet wie Agathe. Wenn dann die Videoleinwand hochgezogen wird, wird auf der Bühne ein riesiger Penis hochgefahren.

Konrad Beikircher hat einmal den „Freischütz“ empfohlen, wenn man ersten Kontakt zur Oper aufnehmen will. Für die Aufführungen in Wuppertal und Gießen gilt das nur sehr einge-schränkt. Beide Häuser setzen deutlich eigene Akzente, auch wenn man in Gießen etwas näher an der ursprünglichen Handlung bleibt.

Der Freischütz in Wuppertal: Ernst, avanciert, konsequent. Die Geschichte wurde aber etwas umgestrickt und mit neu akzentuiert. Wer die Oper vorher nicht kannte, hatte schon seine Schwierigkeiten. Regisseurin Andrea Schwalbach und die Dramaturgie hatten kräftig an den Stellschrauben gedreht, gewagt, aber letztlich nachvollziehbar. So wird der unappetitliche Erwerb der Freikugeln schon angekündigt, denn auf demselben Weg kam schon die Kugel, die den Bergadler tötete, ans Licht. Die Wolfsschluchtszene ist als schwarze Messe gestaltet: Max massakriert dabei das Agathe-Braut-Double, und ein Dorfbewohner, der, der später als Eremit erscheint, wird geblendet.

Ganz deutlich wird aber herausgestellt, dass nicht Max mit Agathe verbunden ist. Das eigentliche Liebespaar bilden Agathe und Kaspar, dessen alter ego Samiel ist. Auch Agathes vertraulicher Umgang mit Samiel zeigt, dass sie mit den teuflischen Mächten auf du und du ist. Dieser Samiel (vom Schauspieler Marco Wohlwendt hervorragend dargestellt) ist immer da, bestimmt alles, hat auf den ersten Blick nichts Teuflisches, weil er wie ein biederer Angestellter mit Thermoskanne und schäbiger Aktenmappe auftritt, bringt aber durch seinen Todeskuss Menschen in seine Gewalt: Kilian, der in diesem Kuss Erotisches sah, wird umgebracht, Agathe ist am Schluss untot, nur Ännchen ist anders: bei ihr zeigt der Kuss keine Wirkung.

Max hat keine Chance. Zwischen ihm und Agathe gibt es keine Intimität, kein Einverständnis.

Max erkennt wohl selber die Absurdität seiner Brautwerbung, indem er nach Kaspars Trinklied mit dem Schleier spielt und so tut, als sei er die Braut. Bei seiner großen Arie sitzen Kas-par und Samiel dabei, lachen laut, bis Max handgreiflich wird. Und als er vorher mit Agathe den Walzer tanzt, wird er von Samiel abgelöst. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als Kaspar beim Probeschuss direkt zu erschießen, obwohl Agathe ihn schützen will, auch nicht umfällt, wie im Libretto angegeben, sondern sich um den Sterbenden kümmert. Insofern wirkt Agathes große Arie im 2. Akt, Ausdruck ihrer Sehnsucht nach Max, hier wie bürgerliche Verstellung. Max ist auch schon lange da, lange bevor sie „süß entzückt entgegen ihm“ singt.

Immer sind mehr Personen auf der Bühne als im Libretto angegeben, z.B. am Anfang zusätzlich Kuno, Agathe und Ännchen als ungern gesehene Fremde. Auch im 2. Aufzug im Försterhaus ist Samiel dabei, oft im vertrauten Miteinander mit Agathe, Ännchens Fröhlichkeitsappelle laufen ins Leere.

Im letzten Akt – Endzeitstimmung, der deutsche Wald ist nur noch ein Bretterhaufen – hat Ottokar, der Fürst, nichts zu lachen. Nicht erst der geblendete Dorfbewohner, der die Rolle des Eremiten übernimmt, sorgt für seine zunehmende Unwichtigkeit, auch andere bedrohen ihn, Ännchen sogar mit einer Pistole. Ottokar beugt sich also nicht nur dem Eremiten, der nicht geistlich ist, sondern eher „demokratisch“, sondern auch der Dorfgemeinschaft, die dann aus dem Chaos wieder etwas machen könnte, wenn nicht Samiel weiter am Tisch säße und Agathe zeigt, dass sie von ihm infiziert ist.

Viele neue Gedanken, kein Abend zum Zurücklehnen und Genießen, sondern zum Diskutieren und Nachdenken. Die Leistungen von Dirigent, Orchester und Sängern waren hervorragend wie immer. Lediglich der Text war oft nur schwer zu verstehen. Hier wären Übertitel angebracht gewesen, so wie es bei Wagner und Strauss inzwischen gängig ist.

 

Regisseur Nigel Lowery verfolgte in Gießen ein absolut anderes Konzept. Die Oper spielt hier im Lande der Waffennarren. Kuno ist hier kein Oberförster, sondern Sheriff, der schon am Anfang mit Pistolen herumfuchtelt, zusätzlich Waffenhändler, sein Försterhaus ein riesiger Waffenladen.

Das hat durchaus einen kritischen Impetus, andererseits kann man an einigen Stellen sogar schmunzeln, und auch die ursprünglich märchenhafte Atmosphäre scheint gelegentlich durch.

Nicht aber, wie oben gesehen, in der Wolfsschluchtszene. Hier wie auch in Wuppertal wird deutlich, dass Freikugeln nur unter allergrößten Anstrengungen zu haben sind und schreckliche Folgen haben können.

Samiel – das ist ein großer Gegensatz zu Wuppertal – kommt überhaupt nicht vor. Das irritiert am Anfang der Wolfsschluchtszene, als Max im Amokläuferoutfit auftritt, Samiels Stimme erschallt (vielleicht doch Max?) und dann umfällt. Auch Kaspar tritt erst später auf als gewohnt, seine Rolle am Anfang übernimmt der Bauer Kilian. Ännchen wird als ältliches alt-modisch bebrilltes Fräulein in grauem Kostüm auf die Bühne gebracht, die gemeinsam mit Agathe Vater Kunos Waffenladen führt. Selten habe ich so aggressive Brautjungfern gesehn, die Agathe so ärgern, dass sie schon vor der Verwechslung des Brautkranzes mit der Toten-krone kaum noch Lust auf Hochzeit hat. Zwischen ihr und Kaspar gibt es auch in dieser Fassung Verbindungen: einmal erscheint Kaspar während Agathes Arie, bevor Max kommt, und wird sogar handgreiflich, und im letzten Akt kommen sie kurz zusammen und werden von Kuno gewaltsam getrennt.

 

Der Schluss ist zwar überraschend, aber grandios. Die Bühne verwandelt sich in eine Nervenklinik, Chor und Statisten werden Schwestern, Pfleger und Patienten. Der Eremit erscheint als Oberarzt im weißen Kittel und weist Max in die geschlossene Abteilung ein – es scheint so, als sei das Massaker nicht nur Fantasie oder Traum gewesen. An dieser Stelle erfährt man auch endlich, wer der Narr ist, der in der ersten Szene beim Aufgehen des Vorhangs allein auf der Bühne steht und sich am Hintern kratzt. Es ist der Fürst Ottokar, der in seinem verwirrten Zustand auch folgerichtig und librettogemäß den Irrenarzt als eine Art Gott anredet. Warum gerade der Fürst als Irrer dargestellt wird, erschließt sich nicht sofort. Vielleicht: Wenn alle verrückt nach Waffen sind, kann dann ein Fürst normal bleiben?

 

Aber warum war das Wolfsschlucht-Massaker so ein Aufreger? Eigentlich müsste es doch klar sein, dass in einer waffenstarrenden Gesellschaft der Schritt dahin nicht so weit ist wie in einer weitgehend friedlichen, und dass auch Allmachtsfantasien eines Erfolglosen dahin führen können. Auch wenn einem diese Idee überdreht erscheint, so war sie doch vorbereitet. So nimmt Max, als er von Kaspar zum Gießen der Freikugeln überredet wird, plötzlich ein automatisches Gewehr aus dem Schrank, und beim Walzer schickt der irre Ottokar mit „Piff-paff-du-bist-tot“-Bewegungen alle von der Bühne. Während Ännchens Arie „Kommt ein schlanker Bursch gegangen“ ziehen diese und Agathe das im Laden stehende Jägermodel erst genüsslich aus, verpassen ihm aber, gerade als vom Heiraten die Rede ist, das Amokläufer-Outfit, in dem Max dann seine Wahnvorstellungen umsetzt.

 

Und der Riesenpenis direkt vor der Pause? Ein deutlicher Hinweis, dass Sexualität mit Gewalt sehr viel zu tun haben kann. Und wenn man die Verbindung zur Jagd zieht, wird´s vielleicht noch klarer. Hier hat Lowery offensichtlich ähnliche Gedanken gehabt wie der Psychologe Bernd Oberhoff in seiner psychoanalytischen Interpretation des „Freischütz“ (2005 in Gie-ßen(!!!) erschienen). Zu Maxens Lage schreibt er: „Maxens Selbstzweifel kreisen letztlich um sein „Rohr“, das sich beim Königsschießen als potenzschwaches „Röhrchen“ erwiesen und ihm öffentlich Spott eingetragen hat. Wie (doppeldeutig) wahr sind doch die Worte Kunos im nachfolgenden Terzett: „Leid oder Wonne, beides ruht in deinem Rohr!““(S. 28). Was die Jagt angeht, zitiert Oberhoff seine Kollegen und fanatischen Jagdliebhaber Paul Parin, der 2003 schrieb: „Das Jagdfieber gewährleistet sexuellen Genuss und die Lust am Verbrechen …Alle erdenklichen naturphilosophischen und religiösen Argumente müssen herhalten, um die Jagd von jedem moralischen Makel freizusprechen. Und doch ist die Jagd der einzige normale Fall, bei dem das Töten zum Vergnügen wird.“ (s. Oberhoff 92f). Und der Jägerchor „Was gleicht wohl auf Erden“, der brutal das Vorspiel direkt nach der Pause unterbricht, scheint eine Versinnbildlichung von Parins These zu sein: „Wenn man über Jagd schreibt, muss man über sexuelle Lust schreiben.“ (s.o.), denn der gesamte Männerchor, mit freiem Oberkörper, bejubelt eine an einer Stange tanzende Frau und schiebt ihr Geldscheine in den Slip.

 

Die musikalischen Leistungen waren mit denen in Wuppertal durchaus vergleichbar, heraus stach Kuno (Adrian Gans) mit seinem unglaublich voluminösem Bariton. Besonders gefallen bei Chor und Orchester hat mir der Mut zum Risiko: Streicherglissandi, geräuschhafte Bläser-einsätze, fast unhörbare Pianissimi, und oft rasante Tempi, die den Chor manchmal überforderten. Trotzdem, oder gerade deshalb, Riesenbeifall.

 

Fritz Gerwinn